Ein Jahr danach

Vor genau einem Jahr und einem Tag ist an dieser Stelle der erste Beitrag im Produktionsblog „Koulou tamam, Ägypten?“ erschienen. Zugegeben: Ein Produktionsblog ist diese Seite schon lange nicht mehr. Das Buch ist im Mai erschienen, hat seine Leser gefunden und dem einen oder anderen vielleicht auch Zusammenhänge aufzeigen können, die er zu zuvor noch nicht gesehen hat.

Vier Mal war ich in diesem Jahr in Ägypten – und erlebte, wohl wie die meisten, eine schlimme Achterbahnfahrt. Hoffnung und Optimismus wechselten manchmal täglich mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Trotzdem muss ich sagen, dass meine Grundstimmung am Ende dann eher ins Positive gerichtet war. Da ich mich für das Buch auch sehr intensiv mit der jüngeren Geschichte auseinandergesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sich Ägypten zwar häufiger in völlig hoffnungslosen Situationen befand, aber sich irgendwie immer daraus befreien konnte. Zum Beispiel die Suezkrise oder die katastrophale Niederlage nach dem Sechstagekrieg.

Getreide und Energie werden in Ägypten knapp und teuer. Hier die etwa einen Kilometer Lange Schlange vor einer Tankstelle in Hurghada. Foto: psk

Dieses Mal geht mir so langsam der Glaube daran verloren. Einerseits sind da sie Nachrichten, die direkt aus Ägypten kommen. Nicht über die normalen Kanäle, sondern über Blogs, wie etwa Anderswo: Leben in Hurghada. Was da zu lesen ist, ist zutiefst erschütternd und verstörend. Andererseits weiß nun jeder, der das Land kennt, dass das Schlimmste ja erst noch im Frühjahr kommen wird. Wenn es wirklich zu explodierenden Getreidepreisen auf dem Weltmarkt kommt, wenn der IWF wirklich auf den Abbau der Lebensmittel- und Energiepreise besteht, was dann? Wenn das alles stimmt, dann sollen sich die Preise für Grundnahrungsmittel vervierfachen – und das in einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung schon jetzt nicht mehr genügend Geld zum Leben hat.

Die Moslembrüder drängen mit aller Gewalt an die ganze Macht. Gut. Vergessen wir mal für einen Augenblick solche Kleinigkeiten wie Freiheit oder Demokratie. Sagte nicht schon Bert Brecht: Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Eben. Die für mich vielleicht schockierndste Nachricht in diesem Jahr war nicht Mursis Griff zur Allmacht, es waren nicht die immer wieder schlimmen Bilder vom Tahrir oder neuerdings von vor dem Präsidentenpalast. Nicht einmal die grauenhaften Ereignisse im Stadion von Port Said am 1. Februar haben mich im Innersten so beunruhigt, wie die aktuellen Bevölkerungszahlen. Inzwischen gibt es auf der Welt über 90 Millionen Ägypter. Bislang war man von 80 Millionen ausgegangen. Als ich zum ersten Mal ins Land kam, und das ist nun über 20 Jahre her, waren es noch 60 Millionen. Die Bevölkerung wächst also um mehr als eine Million im Jahr. Man stelle ich das mal vor: In Deutschland würde jedes Jahr irgendwo in der Republik plötzlich eine Stadt in der Größe Köln auftauchen – einfach so.

Ägypten war einst die Kornkammer des Mittelmeerraums. Inzwischen reichen die Anbauflächen bei weitem nicht mehr, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Ägypten muss also Getreide einführen – und das auch noch sobventionieren, damit sich die Menschen überhaupt ihr Brot leisten können. Und nun sind da also die Moslembrüder. Dass sie fromm sind und zu islamischen Werten zurück wollen und die auch der gesamten Bevölkerung überstülpen wollen, lassen wir mal beiseite. Jeder darf nach seiner Facon selig werden. Aber leider gehören zu den islamischen Werten auch zwangsläufig große Familien (warum eigentlich?). Zu den scheinbaren islamischen Werten gehört auch, dass ein Mann möglichst viele Söhne haben sollte und die Töchter nun nicht ganz soviel zählen. Daran werden die Moslembrüder natürlich nicht rütteln.  Sogar Anwar al Sadat, der selbst ein sehr frommer Moslem war, hatte ein Programm zur Familienplanung auf den Weg gebracht und der Erfolg war ziemlich genau null – wenn man die Bevölkerungsentwicklung betrachtet.

Ist solch ein Programm von den Brüdern zu erwarten? Ich versuch mir gerade vorzustellen, wie die Köpfe der Bruderschaft (die ja angeblich nicht dumm sind) dem Mob, den sie auf die Straße geschickt haben, ganz vernüftig die Vorzüge einer Ein-Kind-Familie darlegen. Nein, natürlich sind die Brüder darauf angewiesen, ihre Anhänger mit traditionellen Ansichten bei Laune zu halten. Und genau hier versündigen sich die Moslembrüder an ihrem Land. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Macht, die Unterdrückung der Opposition sind das eine, aber ein ganzes Volk sehenden Auges dem Hungerelend preiszugeben ist noch einmal etwas ganz anderes. Natürlich spekulieren sie in Ägypten auf die Hilfe ihrer arabischen Brüder. Sie wissen ja genau, dass reiche Scheichs aus den Emiraten, Kuweit und Saudi Arabien ihr Geld längst anderweitig angelegt haben: Zum Beispiel in riesige Weizenfelder in Äthiopien(!). Die Ernte landet nicht etwa auf dem Weltmarkt, sondern in riesigen Getreidesilos als wunderbares Spekulationsobjekt für Situationen, wie sie etwa im Frühjahr weltweit drohen.

Die arabischen Brüder werden sich ihre Hilfe aber sehr teuer bezahlen lassen. Und wenn in der Historie auf eines Verlass war, dann auf die Tatsache, dass es unter den arabischen Völkern einfach mal gar keine Solidarität gibt. Schon seit der Antike haben sie sich gegenseitig stets übers Ohr gehauen und selbst der Koran ist voll von solchen Geschichten. Es könnte also gut sein, dass sich die Brüder völlig verspekulieren, wenn sie auf nachbarschaftliche Solidarität setzen.

Ob sich die Opposition viel besser angestellt hätte, wag ich jetzt mal zu bestreiten. Untereinander waren sie seit Beginn der Revolution schon wie Hund und Katz‘. Präsident Mursi hat sie jetzt wieder ein wenig zueinander gebracht. Trotzdem: Eine Werbung für die Demokratie ist das Gehabe der „demokratischen“ Opposition auch nicht. Sie haben es den Brüdern im letzten Jahr schon sehr leicht gemacht. Ich glaube ich habe es an dieser Stelle auch schon mal so geschrieben: Es ist leichter eine Demonstration zu organisieren als eine parlamentarische Mehrheit.

Wenn das Jahr zu Ende geht, haben wahrscheinlich alle Beteiligten gelernt, dass Demokratie eine verflixt schwierige Sache ist, die nur dann gedeihen kann, wenn sich alle nicht nur an Spielregeln, sondern auch an gute Sitten halten. Für die Mehrheit heißt das, die Minderheit nicht mit aller Gewalt zu unterdrücken, und für die Minderheit bedeutet das, nicht einfach wegzurennen, nur weil man keine Mehrheit hat.

Es war kein leichtes Jahr für Ägypten. Und das kommende wird noch schwieriger. Ich gebe zu, dass mir mein Optimismus jetzt ein wenig abhanden gekommen ist. Aber mir bleibt der Trost, dass sich in diesem Land alles ganz schnell wieder ändern kann. Im letzten Januar sagte mir eine gute Freundin, dass sie fürchte, bis spätestens Juni sei hier alles vorbei und sie müsse wieder nach Deutschland. Es kam am Ende alles ganz anders.

Religion und Demokratie

Beim Getöse um Mursi, seine Dekrete, die Zerschlagung der Gewaltenteilung und das Durchpeitschen der neuen ägyptischen Verfassung gerät ein Gedanke irgendwie ins Abseits, obwohl das Wort jeder im Munde führt. Es gab auch hier bei uns in Berlin in letzter Zeit immer wieder hitzige Diskussionen über die Situation in Ägypten, was nicht zuletzt daran liegt, dass eine größere Gruppe aus meinem Bekanntenkreis für Februar die nächste Reise plant.

Normalerweise höre ich gar nicht hin, wenn im Fernsehen Berichte über Islamisten-Demos kommen. Ihr Geschrei und ihre Parolen nerven mich, und es kommt normalerweise nichts Gescheites dabei raus. Auf der Demo auf dem Nahada-Platz meinte einer der Pro-Mursi-Demonstranten: „Ich weiß ja gar nicht, was die (von der Opposition) wollen?! Sie haben doch jede Wahl verloren.“ Verdammt ja – er hat ja recht. Jedenfalls bin ich da ziemlich ins Grübeln gekommen. Nun kann man ja einwenden, dass sich die Demonstrationen gegen Mursis undemokratische Dekrete wenden. Das ist soweit richtig. Aber offenbar ist der Mehrheit der Ägypter völlig egal, was Mursi mit der Gewaltenteilung anstellt.

Vor einem knappen Jahr, nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen, hat mir der Gewerkschafter und Sozialdemokrat Mazen Okasha eine interessante Rechnung aufgemacht. Er sprach davon, dass sich 80 Prozent der Wähler von religiösen Motiven hätten leiten lassen. Ich korrigierte ihn und meinte, es seien doch nur 70 Prozent Islamisten im Parlament. Er lächelte und sagte, ich dürfe die Rechnung nicht ohne die Kopten machen. Die würden auch noch zehn Prozent der Abgeordneten stellen.

Das bedeutet, dass in diesem Land nur 20 Prozent der Wähler aus politischen, 80 Prozent aber aus religiösen Motiven abgestimmt haben. Nun müssen Religion und Demokratie nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben. Auch die katholische Kirche ist nicht gerade für ihre ausgeprägte basisdemokratische Toleranz bekannt. Wer religiös wählt, dem geht es nicht in erster Linie um persönliche Grundfreiheiten, um Gleichberechtigung, Fairness oder allgemeine Teilhabe. Er ist eher interessiert an Grundwerten, an Familie, an Sicherheit, klaren Strukturen und Hierarchien. Je nachdem kann natürlich genau jener Wunsch im völligen Gegensatz zum Beispiel zu persönlichen Freiheiten, zur Pressefreiheit oder zur Meinungsfreiheit stehen. Aber wenn es die Mehrheit in einer Demokratie so will? Was dann? Zum Sturz der Regierung aufrufen? Das ist in so ziemlich jedem Land der Welt – je nach Umsetzungsgrad – eine Straftat. Die einzige legale Möglichkeit einer Opposition innerhalb einer Demokratie ist, diese Regierung abzuwählen. Wenn einer Opposition das nicht gelingt, dann muss sie sich entweder fügen oder ins Exil gehen.

Wenn nur 20 oder 30 Prozent der Ägypter wirklich einen echten demokratischen Staat anstreben, müssten sie dann nicht mit gutem Beispiel vorangehen und sagen: „Ja, wir akzeptieren dieses Votum und arbeiten daran, dass das nächste anders aussieht“? Stattdessen werden Vergleiche mit Mubarak angestellt. Was war noch gleich der Unterschied zwischen Mubarak und Mursi? Nein, auch eine Demokratie ist eine Diktatur, nämlich die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Nur in sehr weit entwickelten demokratischen Gesellschaften findet man so etwas wie Minderheitenschutz.

Wie wollen die „Demokraten“ in Ägypten andere von der Richtigkeit ihres Weges überzeugen, wenn sie ihn selbst nicht einhalten? Was wird nun aus der Verfassung? Angenommen die Abstimmung findet am 15. Dezember statt. Offensichtlich steht die Richterschaft nicht so einhellig hinter dem Wahlboykott wie der Richter-Club sagt. Was, wenn 70 Prozent der Ägypter sagen: „Ja, wir finden es gut, in einem Staat zu leben, der auf Koran und Scharia fußt, denn die Religion gibt uns Sicherheit, Zuversicht und Vertrauen?“ Ja, liebe Demokraten, was dann?

Eine gute Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Minderheiten schützt und einen möglichst breiten Konsens in den wichtigsten gesellschaftlichen Fragen erzielen will. In einer schlechten Demokratie spielt die Mehrheit mit den Muskeln und unterdrückt die Minderheit wo es nur geht. Aber deshalb bleibt es eben trotzdem eine Demokratie. Und da setzt sich eben nicht immer das Beste durch.

Fast ein Jahr habe ich mich gegen den Bau von Stuttgart 21 engagiert. Ich bin auf Demos gegangen, habe Sticker verteilt und kaum eine Minute der Schlichtung verpasst. Am Ende kam es zu der berühmten Volksabstimmung mit einer knappen Mehrheit für den Bahnhof. Natürlich wusste ich, dass Stuttgart 21 Blödsinn ist. Aber natürlich musste ich auch die Volksabstimmung akzeptieren. Und im Zweifel ist mir die Demokratie dann doch wertvoller als ein dusseliger Bahnhof. Inzwischen hat sich übrigens herausgestellt, dass die Kritiker mit fast allen Einwänden Recht hatten; das Ding wird eine Milliarde teurer, und keiner will’s gewesen sein. Hallo! Auch das ist Demokratie.

Ich habe vor einigen Monaten geschrieben, Warum Ägypten kein Islamistischer Gottesstaat wird“. Davon bin ich heute noch überzeugt. Aber es kann sein, dass das Land – von Staats wegen – frommer wird als heute. Und zwar nicht weil es Mursi oder die Moslembrüder so wollen, sondern weil es dafür vielleicht eine Mehrheit in der Bevölkerung gibt. Natürlich ist das dramatisch. Ein Beispiel: Wenn heute in der Bundesrepublik über die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft abgestimmt würde, dann würde es wahrscheinlich zu einer satten Mehrheit für diesen Entwurf kommen. Auch in Ägypten würde es bei einer solchen Abstimmung wohl ein sehr klares Votum geben – nämlich für die Steinigung.

Den demokratischen Kräften Ägyptens wird nichts anderes übrig bleiben: Statt hysterisch und lautstark Rechte einzufordern, müssen sie anfangen, das Land umzukrempeln, sich Mehrheiten schaffen, Überzeugungsarbeit leisten und klar machen, dass die Menschen unter ihrer Regierung deutlich besser leben würden, als unter der Führung von Islamisten. Das ist ein langer und steiniger Weg, der nicht einmal einen Erfolg garantiert. Aber für Demokraten, für wahre Demokraten, ist es der einzig ehrliche und gangbare.

Orientalische Achterbahn

Hoffentlich wohnt dem grauenhaften Unfall vom Sonntag nicht eine schlimme Symbolik inne. Die beiden Minibusse krachten, soweit ich gehört habe,  an der Abzweigung nach Soma Bay zusammen, also ausgerechnet dort, wo Außenminister Guido Westerwelle normalerweise seinen Winterurlaub verbringt – und der musste am selben Tag wegen dieses Unfalls einen Krisenstab bilden. Angesichts der Situation im Land ist die Metaphorik schon ein wenig gespenstisch.

Mörderische Einöde: Einige Kilometer nördlich von dieser Stelle ereignete sich auf dieser Straße der grauenhafte Unfall mit fünf Toten. Foto: psk

Die Straße, auf der der Unfall passierte, kenne ich ganz gut, weil ich im Sommer dort ein paar Mal unterwegs war. Die Küstenstraße hat ja teilweise schon etwas von einer Orientalischen Achterbahn. Es geht auf und ab, und Nervenkitzel ist garantiert. Die Busse sind rasend schnell unterwegs, auch wenn nicht so ganz klar ist, was da hinter der nächsten Kuppe oder Kurve jetzt so kommt. Theoretisch sollte da eigentlich gar nichts kommen, denn genau genommen handelt es sich bei der Küstenstraße nicht um eine, sondern um zwei Einbahnstraßen. Im Grunde ist es ja eine Autobahn, nur dass die beiden Fahrbahnen bisweilen durch einen kilometerbreiten Mittelstreifen getrennt sind. Das ist insgesamt eine sinnvolle Einrichtung, denn dort, wo die Fahrstreifen so weit von einander getrennt sind, gibt es nicht mehr die entsetzlichen Frontalzusammenstöße, für die Ägypten berühmt und berüchtigt war.

In fast jedem Artikel war nun wieder zu lesen, dass die ägyptischen Straßen zu den gefährlichsten der Welt gehören. Über die Fahrweise der Männer hinterm Steuer muss man nun wirklich kein Wort mehr verlieren. Andererseits stimmt es auch, dass in den vergangenen Jahren ein unglaublicher baulicher Aufwand getrieben wurde, um die Verkehrssicherheit zu verbessern – gerade in der Wüste. Hunderte von Kilometern geradeaus durch eine grandiose Einöde machen einen Fahrer jetzt auch nicht gerade aufmerksamer. Am Unfallort wird dieser Aufwand sehr deutlich. Wer von Hurghada kommt, kann nicht einfach links nach Soma Bay abbiegen. Bis vor einiger Zeit war das noch möglich. Inzwischen muss der Fahrer fast einen Kilometer weiter in Richtung Safaga fahren, ehe er auf die Gegenspur wechseln und zurück fahren kann. Auf Google-Maps ist noch sehr gut zu erkennen, wie die Verkehrssituation vorher aussah. Da gab es tatsächlich eine Linksabbiegerspur, und wer nach Soma Bay wollte, musste die Gegenfahrbahn kreuzen! Bei Gegenverkehr, der oft mit über 100 km/h unterwegs war.

Ich weiß nicht, wie sich der Unfall tatsächlich abgespielt hat, aber ich habe eine Vermutung. Da es so aussieht, als sei der eine Minibus seitlich in den anderen gekracht, könnte wohl ein aus Soma Bay kommender Bus bei der Auffahrt zur Küstenstraße den anderen Bus buchstäblich abgeschossen haben. Das ist aber, wie gesagt, nur eine Vermutung. Wenn es wirklich so war, dann nützen natürlich alle baulichen Maßnahmen nichts.

Es ist ja nicht so, dass in dem Land Probleme nicht erkannt werden. Es ist auch nicht so, dass nicht versucht würde, bei Problemen Abhilfe zu schaffen. Aber was hilft das alles, wenn sich die Mentalität nicht ändert? Da kann ein Vollidiot im Hurghada mit seinem Taxi am Hadaba mit Vollgas aus der Kurve fliegen und direkt in einem Café landen – seine Kollegen fahren an der Cafè-Ruine im gleichen mörderischen Tempo vorbei. Sie wissen ganz genau, dass sie genau so aus der Kurve fliegen können. Es schert sie aber nicht. Allah wird’s schon richten.

Und damit kommen ich zur jetzigen Situation. Es scheint mir so, dass ich in meiner Einschätzung von Präsident Mursi dann doch falsch lag. Das allerdings ändert ja nichts an der Analyse der Situation und an den Problemen, vor denen das Land steht. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass möglichst schnell strukturelle Entscheidungen getroffen werden müssen (Lebensmittelversorgung, Energie, Infrastruktur). Und es lässt sich auch schlecht wegdiskutieren, dass Mursi der einzige gewählte Präsident ist. Ergo muss er die Entscheidungen treffen. Aber dieser Machtpoker geht dann doch zu weit. Vor allem wird er dem Land schaden. Eines habe ich allerdings auch immer gesagt: Mursis wichtigste Aufgabe wird es sein, das Land zu einen. Jetzt tut er genau das Gegenteil.

Allerdings darf man bei all der berechtigten Kritik an Mursi auch eines nicht übersehen. Die Säkularen, die Liberalen und die Kopten haben sich in beiden Kammern vom Acker gemacht. Natürlich sind sie immer überstimmt worden. Aber das ist nun mal in einer Demokratie so, dass einer die Mehrheit besitzt und der andere in die Röhre schaut. Die Bereitschaft, dicke Bretter zu bohren, zu verhandeln, immer wieder zu reden und/oder stabile Bündnisse zu schmieden ist in Ägypten nicht besonders ausgeprägt (dabei können sie doch angeblich so gut handeln!). Ich erinnere nur an den Ägyptischen Block. Es ist eben immer noch einfacher, eine Demonstration zu organisieren, als eine Mehrheit. Und damit sind wir wieder auf der Straße angelangt.

Egal ob auf den Tahrir- oder dem Nahada-Platz. Mit kommen beide Gruppen im Moment so vor, wie zwei Minibusfahrer, die sich ein mörderisches Rennen liefern. Eigentlich wissen beide ganz genau, dass es irrsinnig gefährlich ist, was sie gerade veranstalten. Aber es schert sie nicht – so lange nicht, bis es knallt.

 

Blick zurück nach Luxor

Nach mehr als zwei Monaten gibt’s nun endlich wieder einen Blog-Eintrag. Die Pause war persönlich bedingt, doch nun will ich mich wieder öfter an dieser Stelle zu Wort melden.

Es sind jetzt genau 15 Jahre, da fuhr ich gerade zurück von Winterthur, als ich die Nachricht hörte, dass in Luxor ein Terrorkommando der Gamaa Al Islamiya 60 Touristen ermordet hatte. Ich weiß noch, dass ich vor Schreck beinahe von der Straße abgekommen wäre. Gerade acht Wochen war es her, da hatte ein Geistesgestörter neun deutsche Touristen und einen ägyptischen Busfahrer auf den Tahrir-Platz umgebracht. Die meisten Opfer kamen aus dem Giftun-Hotel. Dort saß ich am Abend mit Barbara und Thomas in ihrem Restaurant, als abends gegen neun ein völlig verstörtes, bleiches Kindermädchen herein kam und von dem Anschlag berichtete. Der Schock war ungeheuer groß. Verstörend war zudem eine ganz andere Tatsache: Der Anschlag war schon fast zwölf Stunden her. Die gesamte ägyptische Belegschaft hatte schon am Mittag davon erfahren. Doch keiner hatte den Mut gehabt, Thomas oder Barbara über das Geschehen zu informieren.

Wir fuhren an diesem Abend zurück ins „Arabia“ und zwar mit einem Minibus, in dem bereits eine ägyptische Familie saß. Kaum hatten wir den Bus bestiegen, kam die Frage, woher wir kämen, und als wir mit „Deutschland“ antworteten wurde das mit heftigen Beileidsbekundungen und Entschuldigungen(!) quitiert. Als wir das Hotel erreicht hatten, versuchte der Fahrer einen deutlich überhöhten Preis zu kassieren (Für Eingeweihte: Es war der alte „Special-Taxi-Trick“ und schon deshalb sehr dreist, weil ja bereits Fahrgäste im Minibus saßen). Ich kam nicht einmal dazu, mich zu wehren, schon fiel die Familie förmlich über den Fahrer her und beschimpfte ihn, ob er denn gar kein Schamgefühl im Leib habe. Ähnlich ging es weiter in den nächsten Tagen. Immer wieder wurden Europäer und vor allem Deutsche mit Beileid und Entschuldigungen – teils unter Tränen – konfrontiert.

Acht Wochen später also der Anschlag von Luxor. War der Tourismus nach dem Attentat in Kairo noch mit einem blauen Auge davongekommen, so brach nun alles zusammen. In einem Interview für Silent World sagte mir Monika Wiget vom Jasmin Diving Sports Center: „Von heute auf morgen war plötzlich alles tot, und wir wussten nicht, wann die Gäste wiederkommen würden.“ Tatsächlich bedeutete der Anschlag von Luxor eine Art Zeitenwende. Bis dahin war an dem zehnjährigen rasanten Aufstieg Hurghadas zur größten Touristenmetropole am Roten Meer alles abgeperlt. Zum ersten Mal spürte die Stadt wirklich, was es heißt, wenn die Gäste ausbleiben. Das hatte es zwar im Frühjahr 1991 auch schon einmal gegeben. Doch damals war der Flughafen während des Golfkrieges gesperrt, und kaum war er wieder offen, waren die Touristen auch wieder da.

Aber auch auf der Gegenseite war der Anschlag eine Zäsur. Die Gamaa al Islamiya, die einst bei der Bevölkerung für ihr soziales Wirken durchaus beliebt war, hatte ihren gesamten Kredit verspielt. Selbst in ihrer Hochburg Oberägypten waren die Gamaa-Mitglieder inzwischen verhasst. Sie wurden buchstäblich aus dem Land geprügelt. Die eine Hälfte flüchtete und schlug sich zur Al Kaida durch, die andere Hälfte löste 1998 den ganzen Verein einfach auf. Der Vorgang sucht im übrigen weltweit seinesgleichen. Zumindest nach meinem Wissen hat sich noch nie eine Terrororganisation aufgelöst, weil der Druck der Bevölkerung so stark geworden war.

Es ist schon eine bittere Ironie der Geschichte, dass der Nahe Osten am 15. Jahrestag des Anschlages von Luxor wieder vor einem Krieg steht. Die Hamas fußt auf den gleichen Prinzipien, wie die Gamaa al Islamiya, einerseits Terror zu verbreiten andererseits sozial zu wirken. Die ägyptische Bevölkerung steht dieses Mal fast einhellig hinter der Hamas und ziemlich geschlossen gegen Israel, was bei der Politik der derzeitigen israelischen Regierung auch kein großes Wunder ist. Allerdings ist im Gazastreifen auch etwas anderes zu besichtigen: Wie rücksichtslos die Hamas mit ihrer eigenen Bevölkerung umgeht. Dass Ägyptens Präsident Mohammed Mursi seinen Premierminister Hischam Kandil in den Gaza-Streifen geschickt hat, um sich um ein Waffenstilstandsabkommen zu bemühen, ist allerehrenwert. Die Israelis hatten versprochen, die Kampfhandlungen während des Besuchs einzustellen. Nachdem die Hamas während Kandils Visite 50 Raketen auf Israel abfeuerten, reiste der ägyptische Premierminister vorzeitig ab.

Dass der legitime Kampf um eine gerechte Sache durch eigenes Unrecht diskreditiert werden kann, hatte ja einst sogar Palästinenserführer Jassir Arafat eingesehen. An dieser Erkenntnis fehlt es der Hamas nicht nur, sie verfolgt ja auch alle ihre Kritiker im palästinensischen Lager mit unbarmherziger Härte. Einst waren die Gamaa und die Hamas Schwesterorganisationen – die sich übrigens auch bei Attentaten gegenseitig unterstützten. 15 Jahre nach Luxor könnte die Hamas aus dem Anschlag lernen, was es heißt, den Bogen zu überspanmnen. Den Ägyptern, die der Hamas zujubeln, sei dagegen ein genauerer Blick auf den Gazastreifen empfohlen. Dass die Bevölkerung dort so entsetzlich leidet, hat nicht alleine mit der israelischen Blockadepolitik zu tun.

Dschihadistische Wahlkampfhilfe

Es war ein Schock in der Morgenstunde, was ich da heute als Aufmacher auf der Titelseite des Berliner „Tagesspiegel“ zu sehen bekam: Der Verfassungsschutz sorgt sich um die Zukunft Ägyptens! Leider war die Überschrift in der gedruckten Version noch erheblich reißerischer als in der nun verlinkten. Den Grund für die Sorge erläutert der neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen in einem großen Interview mit dem Blatt. Nach der Lektüre dieser beiden Beiträge war der Tag für mich eigentlich schon gelaufen, ehe er so richtig begonnen hatte.

Klar heute ist 9/11-Gedenken, da darf man beim obersten Verfassungsschützer schon mal nachfragen, was die Dschihadisten so machen, also jene Gruppe Islamisten, die sich selbst im Heiligen Krieg sehen und ihn gegebenenfalls auch führen. Aber dieses Interview war dann schon ein wenig starker Tobak. Dass die markerschütternde Erkenntnis sein soll, dass 23 salafistische Dschihadiisten (oder dschihadistische Salafisten) nach Ägypten ausgereist sind und damit mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr ist ja wohl kaum eine Erkenntnis, die den eh schon geschundenen Staat in seinen Grundfesten erschüttern würde. Da gibt es deutlich wichtigere Erkenntnisse, die aber schon seit längerem bekannt sind. Etwa dass die Regierung faktisch keine Kontrolle mehr über den Sinai hat, ist spätestens nach der Ermordung von 16 Grenzsoldaten durch islamistische Terroristen wohl jedem klar geworden. Auch weiß man schon seit geraumer zeit, dass Al-Quaida-Zellen nahe der israelischen Grenze operieren. Auch dass Ägypten seit Jahren für deutsche Salafisten eine wichtige Rolle spielt ist ebenfalls nicht mehr der große Bringer. Ob ich Herrn Maaßen verraten soll, dass der berühmt-berüchtigte deutsche Islamist und Hassprediger Pierre Vogel, alias Abu Hamza, seine kruden Schriften in Kairo drucken läßt? Offenbar war das dem Verfassungsschutz-Chef nicht klar, sonst hätte er es in diesem Interview sicher auch einer größeren Öffentlichkeit verraten.

Was an diesem Interview so ärgerlich ist, ist die Tatsache, dass Ägypten vom Chef des deutschen Verfassungsschutzes so dargestellt wird, als entwickle es sich zu einem zweiten Afghanistan. Millionen von Urlaubern wissen es zu schätzen, dass man relativ leicht und unkompliziert in das Land einreisen kann. Da können dann tatsächlich auch ein paar Salafisten dabei sein. Und dass Ägypten zur Drehscheibe des Terrors wird, weil das Land gute Fluganbindungen in die ganze Arabische Welt hat, scheint mir auch eine sehr gewagte These zu sein.

Was an diesem Interview so gefährlich ist, ist die Tatsache, dass Ägypten vom Chef des deutschen Verfassungsschutzes auch als Urlaubsland diffamiert wird. Wer will schon seine Ferien einer Dschihadisten-Hochburg verbringen? Statt sich um 23 reisende Salafisten zu sorgen, sollte man sich lieber um 23 Millionen Ägypter sorgen, die direkt oder indirekt von den Einkünften aus dem Fremdenverkehr abhängig sind. Die verlieren durch so ein Geschwätz die Lebensgrundlage.

Das Land hat weiß Gott genügend Sorgen, da braucht es nicht noch solche Interviews. Als Hintergrundinformationen mögen solche Dinge ja vielleicht noch hilfreich sein – ich sage ausdrücklich vielleicht – aber sie so hoch zu hängen? Nein, das ist fahrlässig.

…fällt selber rein. Mit Plakaten dieser Bauart sorgte Bundesinnenminister Friedrich für viele lustige Ideen im Netz und für ein Ende der Kommunikation mit islamischen Verbänden.

Die Frage ist nun, warum tut der Mann das? Er ist erst wenige Wochen im Amt und wenn wir uns erinnern, hat es um seine Ernennung sowie die Personalpolitik von Innenminister Hans-Peter Friedrich einigen Wirbel gegeben. Zu den Personalrochaden war es unter anderem wegen der Ermittlungspannen im Zuge der Untersuchungen gegen die rechtsterroristische NSU gekommen. Da steht auch der Minister nach wie vor unter Druck. Reflexartig versucht Friedrich immer wieder auf die tatsächliche oder vermeintliche Gefahr aus dem islamistischen Umfeld abzulenken. Es ist ja gerade mal zwei Wochen her, da machte Friedrich mit einer Plakataktion von sich reden, in der zur Wachsamkeit vor in den Terrorismus abrutschenden jungen Menschen gewarnt wurde. Die Plakataktion war sehr erfolgreich: Sofort wurde sie im Netz eifrig parodiert und so ziemlich alle islamische Organisationen in Deutschland haben Friedrich die Zusammenarbeit aufgekündigt. Nicht wenige vermuten, dass Friedrich ganz bewußt den Weg der Kommunikation aufgibt und die Konfrontation sucht um damit die Probleme beim Kampf gegen den Neonazi-Terror zu überspielen. So gesehen sind die 23 reisenden Dschihadisten eher als Wahlkampfhelfer für Hans-Peter Friedrich zu sehen, denn als existenzielle Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung.

Eine aufschlussreiche Reise

Die Blog-Pause war nun ziemlich lange, aber ich habe sie sinnvoll verbracht – und zwar in Ägypten. Für das Tauchreise-Magazin „Silent World“ war ich im Süden an der Küste unterwegs um Tauchbasen mit den schönsten Hausriffen am Roten Meer zu erkunden. Nicht nur aus journalistischer Sicht war die Reise ein voller Erfolg. Vor allem habe ich eine einige Menschen kennen gelernt, die mir zum Teil noch einmal ganz neue und wertvolle Einblicke in die derzeitige Situation in Ägypten verschafften.

Die Fahrt in den Süden offenbarte mir etwas ganz Erstaunliches: Mit jedem Kilometer schien die Revolution weiter weg. Doch nicht nur das. Offensichtlich sind die Hotels auch voller, je weiter es nach Süden geht. im Medinat Coraya schließlich, einem Verbund von fünf Hotels um die Bucht von Coraya, schien es praktisch keine Probleme in Sache Tourismus zu geben. Hans Heinz Dilthey, Besitzer der örtlichen Tauchbasis Coraya Divers, hat dafür eine verblüffende Erklärung parat: „Es ist die Nähe zum Flughafen“, tatsächlich ist der Flughafen Marsa Alam keine zehn Autominuten von der Bucht entfernt.

Der Süden hält manche Überraschung bereit: Nein, das ist kein Fort der Fremdenlegion sondern das Utopia-Hotel

Hans Heinz nahm mich auch mit nach Port Gahlib, das einst als südliches Gegenstück zu El Gouna geplant war. Während das Original im Norden vom ägyptischen Unternehmer Samih Sawiris gebaut wurde, hatte es im Süden der Kuwaiti Nasser al-Kharafi versucht, der sich gleich noch den benachbarten Flughafen leistete. Doch während El Gouna auch in den schlimmsten Krisenzeiten stets gut gebucht war, gleicht das feine Port Ghalib einer Geisterstadt. Etwa die Hälfte der Shops an der Marina sind leer. Die einizigen Menschen sind sichlich gelangweilte Shopverkäufer, die nicht einmal halbherzige Versuche unternahmen, uns ihn ihre Läden zu locken. Für Ägypten ein eher untypisches Verhalten.

Es gibt eine handvoll Kneipen, die sich zu einer etwas merkwürdigen Aktion zusammengeschlossen haben, vermutlich um den kuwaitischen Investor oder vielleicht die künftigen Machthaber zu beeindrucken. Sie schenken alle keinen Alkohol aus. Mit durchschlagendem Erfolg. Die Etablisements sind einfach mal leer. Die einzige Bar, die noch Alkohol ausschenkt verlangt für das Bier 40 ägyptische Pfund, das sind umgerechnet 5,32 Euro. Selbst, wenn jetzt einmal in der Woche die großen Safarischiffe von der Südtour zurück kommen, macht diese Kneipe kein großes Geschäft mit durstigen Tauchern. Die verbringen der letzten Tag dann lieber an Bord.

Jetzt mal ohne jegliche Schadenfreude: Mir gefällt das ziemlich gut, denn Port Ghalib zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie ein Tourismus in Ägypten funktionieren würde, wenn er nach den Vorstellungen der Salafisten gestaltet würde. Die hätten allerdings am 6. November 2009 allerdings zu verhindern gewußt, dass Beyoncé während ihrer „I am“ Tour das einzige Konzert auf afrikanischem Boden ausgerechnet in Port Ghalib gab.

Der Aufreger schlechthin war während meines Aufenthaltes die Entlassung des Feldmarschall Tantawi durch Präsident Mohamed Mursi. Im ersten Moment schien mir das etwa so logisch, wie wenn Horst Seehofer kurzerhand Angela Merkel entlassen hätte, sie als Beraterin wieder einstellen und mit dem Bundesverdinstkreuz am Bande mit Pauken,Trompeten und Brustring auszeichnen würde. In diesem Moment haben fast 85 Millionen Ägypter die Augen fest zu gemacht und sich die Ohren zugehalten. Und passiert ist … nichts. Kein Militäroutsch, kein Bürgerkrieg – nur himmlische Ruhe. Und als die ersten sich wagten, langsam die Augen wieder zu öffnen, haben sie Mursi alle heftig beklatscht. Selbst Liberale und Säkulare fanden es zunächst toll. Allerdings wäre Ägypten nicht Ägypten, wenn sich das nicht ganz schnell wieder gedreht hätte. Wer so eine Macht ausübt, kann sie ja auch dazu nutzen, um sie für die Moslembrüder zu zementieren. In diesem Sinne gibt es am Freitag wieder einmal eine Großdemonstration auf dem Tahrir, wo gegen die Machtfülle der Moslembrüder demonstriert werden soll. Irgend ein komischer Imam hat dann dazu aufgerufen, jeden, der gegen die Brüder demonstriert, kurzerhand abzuknallen. Zwei Tage später behauptete jener Imam, so etwas nie gesagt zu haben…

Ich bin sehr gespannt auf Freitag. Und da bin ich nicht der einzige. Eine knappe Woche nach Ende des Ramadans könnte es vielleicht sein, dass einige einfach nur ihre Aggressionen abbauen wollen. Ob es friedlich bleibt? Ich hoffe es, aber ich befürchte, nein. Das mag wohl daran liegen, dass sich auch die Versorgungslage – bedingt auch durch die heißen Sommertage – inzwischen wieder verschlechtert hat. Die Schlangen an den Zapfsäulen sind nach wie vor elend lang. Brauch- und Trinkwasser werden schon mal knapp und in Hurghada wünscht man sich inzwischen  nicht mehr einen „Guten Morgen“ sondern „Starken Strom“.

Fast drei Wochen war ich jetzt wieder in Ägypten. Trotz all der Probleme, die das Land hat, es lohnt sich noch immer dort Urlaub zu machen. Es war schön wie eh und je.

Ägypten und Griechenland

Es war eine kleine, aber feine Lesung gestern Abend im K-Salon in der Kreuzberger Bergmannstraße. Interessanterweise kam die die Diskussion dann auch irgendwann auf Griechenland, aber nicht etwa wegen der Euro-Krise oder dem bevorstehenden Halbfinale gegen Deutschland. Es ging um das Verhältnis zwischen Ägypten und Griechenland, das seit der Antike ein traditionell gutes ist. Herodot hat gleich zwei seiner Weltwunder in Ägypten angesiedelt. Der Handel zwischen Alexandria und Piräus war stets sehr lebendig. Griechische und ägyptische Kultur standen in regem Austausch. Die zweitgrößte ägyptische Stadt ist eine Gründung Alexander des Großen.

Für viele Griechen wurde Ägypten auch zu einer zweiten Heimat. Bis vor sechzig Jahren war ein großer Teil der Gastronomie und Hotelerie fest in griechischer Hand. Kellner waren fast ausnahmslos Griechen und wurden in Restaurants traditionell herbeigeklatscht, so dass in Ägypten ein Sprichwort entstand: „Klatsch in die Hand, und ein Grieche kommt gerannt.“ In jener Zeit lebten rund 300.000 Griechen in Ägypten.

Das änderte sich mit der Revolution von 1952 und der späteren Machtübernahme von Gamal Abdel Nasser. Im Zuge der Verstaatlichung verloren viele griechischen Hoteliers ihre Häuser und am Ende flogen die 300.000 Griechen aus dem Land. Trotzdem gibt es bis heute eine starke gegenseitige Affinität.

Wer mir bis hierher gefolgt ist, mag sich vielleicht fragen, was diese Lobpreisung der ägyptisch-griechischen Beziehungen soll. Doch gerade in diesen Tagen kann das eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wenn wir die Uhr um etwa ein Jahr zurückdrehen und uns daran erinnern, was im libyschen Bürgerkrieg passierte, wird es schnell klar. Tausende Flüchtlinge versuchten übers Mittelmeer nach Italien zu kommen. Schon da tauchte die Frage auf, ob Europa denn die vielen(!) Flüchtlingen aufnehmen könne. Die italienische Regierung wollte sie über ganz Euorpa verteilen, das Schengen-Abkommen war plötzlich in Gefahr.

Dass die Situation in Ägypten in diesen Tagen sehr ernst ist, wird niemand bestreiten. Es wird wohl kaum zu einem Bürgerkrieg wie in Libyen kommen, aber die ägyptische Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Es ist also gar nicht so ausgeschlossen, dass sich irgendwann auch von Ägypten aus Flüchtlinge in Richtung Europa aufmachen. Aus historischen, kulturellen und geografischen Gründen wird ihr erstes Ziel ausgerechnet Griechenland sein – so wie es vor einem Jahr Italien für flüchtende Libyer war.

So! Und nun verdeutlichen wir uns einmal die Größenordnungen: Libyen hat 6,5 Millionen Einwohner, Italien zehn mal so viel. Italien ist zwar auch nicht das gesündeste Land Europas, aber Italien geht es verglichen mit Griechenland immer noch relativ gut.  Aber der heftigste Vergleich: Es gibt 10 Millionen Griechen, aber 85 Millionen Ägypter. Aus Lybien sind im vergangenen Jahr einige Zig-Tausend Menschen geflohen. Wieviele würden im schlimmsten Fall aus Ägypten fliehen? Sollte Ägypten tatsächlich zusammenkrachen, dann, so fürchte ich, können sich die europäischen Politiker jede Konferenz über irgendwelche Rettungsschirme für Griechenland einfach mal sparen.

Das ist vielleicht ein sehr pessimistische Szenario. Ich hoffe natürlich auch, dass es nicht so schlimm kommt. Aber es zeigt doch eines ganz deutlich. Über all die Diskussionen über Euro-Rettung und Griechenlandhilfe sollte man eines nicht vergessen: Wenn Ägypten in dieser Phase vollends ins Chaos stürzt, dann kann das á la longe die Europäer und den Rest der Welt viel teurer zu stehen kommen, als jeder Rettungsfond.

Mit Sicherheit

Fast jeden Tag werde ich gefragt, wie es um die Sicherheit von Touristen in Ägypten bestellt ist. Da kommen natürlich Nachrichten wie diese, nach der heute zwei amerikanische Touristen auf dem Sinai entführt wurden, immer sehr günstig. Deshalb will ich mal diesen – durchaus exemplarischen Fall – zum Anlass nehmen, einige grundsätzliche Dinge zum Thema Sicherheit der Touristen klarzustellen.

Natürlich war die allgemeine Sicherheitslage vor der Revolution besser. Aber woran lag das denn? Es lag daran, dass die Polizei zuvor tun und lassen konnte was sie wollte, dass die gefürchtet war, und dass sie ihre Macht oft auch leidlich ausnutzte. Als Anfang der 90er Jahre die Terrororganisation Gamaa al Islamiyya auf ihren ersten Feldzug gegen die Touristen ging, kam das bei der Bevölkerung gar nicht gut an. Die Gamaa stoppte die Anschläge auf Reisebusse und verkündete, jeden Tag einen Polizisten töten zu wollen. Da erhob sich komischerweise kein Sturm der Entrüstung. Warum wohl?

Schon während der Revolution ist die Polizei weitgehend abgetaucht. So langsam lässt sie sich wieder blicken, und wer uniformiert ist und den Straßenverkehr regelt, ist nun nett, freundlich und zuvorkommend. Nur nicht anecken, scheint die Devise bei den Beamten zu sein. Die Verkehrsdisziplin, die in Ägypten noch nie besonders ausgeprägt war, ist nun völlig auf den Hund gekommen. Und an diesem Punkt muss ich eines zugeben: Nie war es für einen Touristen gefährlicher, die Straße zu überqueren, als in diesen Tagen. Allerdings – ungefährlich war es auch noch nie.

Wieviele von den rund 4.000 Schwerverbrechern, die während der Revolution rausgelassen wurden, um das Land zu destabilisieren, inzwischen wieder hinter Gittern sitzen, kann ich leider nicht sagen. Dass Ägyptens Verbrecherelite mindestens zum Teil noch auf freiem Fuß ist, macht die allgemeine Sicherheitslage im Land auch nicht gerade besser.

Trotzdem merken die Touristen von all dem eigentlich relativ wenig. Das ist ziemlich erstaunlich, denn gerade dort, wo sich aus der Sicht des gemeinen Ägypters Geld und Reichtum im Überfluss befinden – nämlich den Urlaubsgebieten – scheint es am sichersten im ganzen Land zu sein. Die Erklärung ist – zumindest für mich – relativ einfach. Jeder, aber auch wirklich jeder Ägypter fühlt sich für seine Gäste, die ihn in seinem Land besuchen, verantwortlich und versucht ihn mit allen Möglichkeiten zu schützen.

An dieser Stelle wäre der Einwand angebracht: Aber was ist mit diesen Entführern auf dem Sinai? Wenn ich nun behauptete, dass das keine Ägypter seien, dann hätte das möglicherweise einen rassistischen Ruch. Ich sag es trotzdem, weil sie es nämlich selbst so sehen. Wenigstens die Beduinen auf dem Sinai empfinden sich selbst nicht als Ägypter, sondern als Menschen, die eben notgedrungen in diesem merkwürdigen Staatssytem leben. Seit dem Ende des Mubarak-Regimes kommt es immer wieder zu solchen Entführungen. Kurios war die kurzeitige Entführung von sechs Deutschen im Januar. Da forderten die Entführer eine Widerholung der Parlamentswahl für die Provinz. Der Gouverneur gab nach.

Das alles erinnert sehr an den Jemen vor einigen Jahren. Immer wieder wurden dort Touristen – wohl auch von Beduinen – entführt. Jedesmal wurden Krisenstäbe gegründet, und es gab em Werderschen Markt eine große Betriebssamkeit und Hektik – soweit die Entführungsopfer Deutsche waren. Nicht selten tauchten die Entführten nach ein paar Tagen begeistert wieder auf und erzählten, sie seien zu einer beduinischen Hochzeit eingeladen worden, und ihre Gastgeber hätten sie gar nicht mehr gehen lassen. Dass sie Opfer einer Entführung geworden waren, hatten sie oft nicht einmal bemerkt.

Tatsächlich wurde in der Zwischenzeit um eine neue Straße für das Dorf oder um eine Schule verhandelt. Komischerweise endete das vermeintliche Fest immer genau dann, wenn die Verhandlungen erfolgreich verlaufen waren. Was für die einen ein großes folkloristisches Ereignis war, bedeutete für die anderen einen hochkriminellen Akt.

Ich weiß nicht, wie es den beiden Amerikanern auf dem Sinai geht und ob für sie eine ähnliche Folklore-Kulisse aufgebaut wird. Ich glaube es nicht. Allerdings geht es in dem vorliegenden Fall offenbar weniger um eine Schule oder um Wahlbetrug. Scheinbar will ein Clan einen Drogenschmuggler aus seinen Reihen befreien. Allerdings ist auf diese offizielle Verlautbarung wenig zu geben. Die „Tatsache“, dass es sich um einen Drogenschmuggler handelt, muss auch nicht unbedingt stimmen.

Zurück zur allgemeinen Sicherheitslage. Aus dem vorliegenden Fall lernen wir, dass es zur Zeit vielleicht sicherer ist, in Hurghada, El Gouna, Makadi oder Soma Bay Urlaub zu machen, als in Sharm el Sheik, Nuweiba oder Dahab. Wer trotzdem auf den Sinai will, bleibe besser im Hotel oder gehe lieber nur in größeren Gruppe und lasse sich auf keinen Fall auf besondere (und besonders günstige) Touren nach Was-weiß-ich-wohin ein, die einem ein Wildfremder wie Kai aus der Kiste anbietet.

Ein Wort noch zu Kairo: Ja, man kann nach Kairo fahren, man kann auch die Pyramiden und wohl auch die Zitadelle besuchen. Beim Ägyptischen Museum wäre ich persönlich etwas vorsichtig, weil es eben direkt am Tahrir-Platz liegt, und das ist nach wie vor der Haupt-Demonstrationsort des Landes.

Ist es dort wirklich so schlimm? Ich will’s mal so sagen. Natürlich würde ich jedem Ägypter zu einem Besuch Berlins raten. Er sollte dann auch ganz sicher einen Abstecher nach Kreuzberg machen. Sollte er aber aus irgendeinem Grund ausgerechnet am 1. Mai abends um halb sieben den Kotti besuchen wollen, würde ich ihm doch auch sagen, dass das zu diesem Zeitpunkt keine besonders tolle Idee sei.

Partei oder Persönlichkeit?

Immer diese Schrifsteller! Der Verleger (r.) und sein Autor.

Noch einige kurze Anmerkungen zu meinem gestrigen Blogeintrag. Der hat immerhin zu einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit meinem Verleger Robert in der Kneipe unseres Vertrauens geführt. Vor allem die These, dass Mohamed Mursi die Wahlergebnisse der Moslembrüder halbiert habe, hat Robert erzürnt. Außerdem musste ich mich – nicht ganz zu Unrecht – mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass der Blogeintrag dann doch ein wenig zuviel Insider-Wissen voraussetzt. Insbesondere die Vielzahl der Namen habe dann etwas verwirrt. Diese Verwirrung will ich nun entwirren.

Von den 13 Kandidaten, die zur Präsidentschaftswahl standen, galten fünf als aussichtsreich.:

  1. Der frühere Außenminister Amr Moussa,
  2. der ehemalige Moslembruder Abul Futuh,
  3. der frühere Premierminister Ahmed Shafik,
  4. der Vorsitzende der Partei der Moslembrüder „Freiheit und Gerechtigkeit“ Mohamed Mursi,
  5. der Nasserist Hamdin Sabahi.

Als Favoriten galten Moussa und Futuh, die sich auch in einem Fernsehduell vier Stunden lang gegenüber standen. Es war das erste seiner Art in Ägypten. Experten waren vor der Wahl davon ausgegangen, dass Moussa weitgehend die Stimmen des säkularen Lagers sammeln würde und Abdul Futuh die meisten Stimmer der Religiösen bekommen würde.

Obwohl die Moslembrüder bei den Parlamentswahlen mit ihrer Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ mit rund 47 Prozent der Stimmen extrem gut abschnitten, wurden Mursi keine all zu großen Chancen eingeräumt. Zum einen war er nur der Ersatzkandidat. Der eigentliche Kandidat der Moslembrüder Chairat el-Shater war von der Wahl ausgeschlossen worden. Mursis Wahlkampfauftritte waren häufig ein Desaster, und außerdem fand der im Sommer von den Moslembrüdern ausgeschlossene Futuh gerade bei der Jugend der Moslembrüder viel Zustimmung. Schließlich hatten sich in den letzten Monaten zahlreiche Wähler enttäuscht von den Moslembrüdern abgewendet.

Vergleicht man das Abschneiden der Partei bei den Parlamentswahlen mit dem des Kandidaten zur Präsidentschaftswahl, dann ist das Ergebnis tatsächlich nur noch halb so groß. Der Streitpunkt am gestrigen Abend war nun, ob es zulässig ist, die Ergebnisse einer Parlamentswahl mit denen einer Persönlichkeitswahl zu vergleichen. Robert meinte nein, ich meine ja. Es ist sicherlich richtig, dass Mursi ziemlich schlechte Startvoraussetzungen hatte. Wenn es stimmt, was man so hört, dann war er der sprichwörtliche „Hund, der zum Jagen getragen werden muss.“ Doch sein vergleichsweise schlechtes Abschneiden ist nicht alleine seiner Person geschuldet. Tatsächlich haben sich in den letzten Monaten vor allem junge Ägypter von der Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ abgesetzt, weil sie von den Moslembrüdern enttäuscht sind und im Land zu wenig passiert.

Das kann sich jetzt bald ändern. Gestern hatte ich prophezeit, dass Mursi verhandeln muss, wenn er die Stichwahl gewinnen will. Und was lese ich heute? Dass er sich einen koptischen Vizepräsidenten vorstellen kann. Das klingt zunächst einmal nicht schlecht. Die Kopten machen immerhin 10 Prozent der Bevölkerung aus. Sie haben allerdings unter den halbanarchischen Zuständen am meisten zu leiden. Mursis Gegner Shafik verspricht, diese Zustände mit größter Härte beenden zu wollen. Das klingt dann eher wieder nach Drohung im Stile des alten Regimes, denn nach Hoffnung.

Katastrophe oder Chance?

Als ich vor ein paar Tagen aus Ägypten zurück kam, erklärte ich als profunder Kenner des Landes jedem, wie die Präsidentschaftswahlen ausgehen würden.  „Wahrscheinlich kommen Moussa und Abul Futuh in die Stichwahl. Der eine hat Erfahrung, der andere Charisma. Mursi und Shaffik haben keine Chance, der eine ist zu farblos, der andere nicht vermittelbar.“ Deshalb stehen jetzt Mursi und Shaffik in der Stichwahl. Irgendwie erinnerte mich das fatal an meine Zeit als Sportredakteur, wenn ich am Freitag in einer Vorschau schrieb, warum eine Mannschaft am Samstag gewinnt und ich am Montag erklären musste, warum sie verloren hat.

Die Präsidentschaftswahlen sind seit Monaten ein heiß diskutiertes Thema auch zwischen Thomas (links) und Peter. Foto: syt

Trotzdem war ich ein leidlich ordentlicher Sportredakteur. Trotzdem glaube ich, die Lage in Ägypten auch ganz gut beurteilen zu können – wenn das überhaupt einer kann. Schließlich war ich ja nicht der einzige, der sich geirrt hat. Aber was ich definitiv hätte voraussagen können, waren die Reaktionen auf diesen Wahlausgang. Da ist von Katastrophe die Rede, vom Ende oder gar dem Verrat an der Revolution, von der gescheiterten Demokratiebewegung. Ich gebe zu, ich war im ersten Moment auch ein wenig geschockt, weil ich mir einen anderen Wahlausgang gewünscht hätte. Doch bei näherer Betrachtung ist diese Ausgangslage vielleicht gar nicht mal die schlechteste für das Land – und seinen Weg zu einer wirklich funktionierenden Demokratie. Steile These? Ich versuch es mal zu erklären.

  1. Hätte irgendein Kandidat der Säkularen die Wahlen gewonnen, dann wäre er vermutlich an den überzogenen Erwartungen an ihn ganz schnell zerbrochen. Sollte der Moslembruder Mursi die Wahlen gewinnen, liegen auf ihm ganz andere Erwartungen (die er wohl auch nicht alle zur Zufriedenheit seiner Anhänger erfüllen kann).
  2. Mursi hat etwa 25 Prozent geholt. Bei den Parlamentwahlen hat die Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ aber 47 Prozent erreicht. Mursi hat es also schon mal geschafft, den Stimmenanteil seiner Partei fast zu halbieren.
  3. Wenn Mursi Präsident werden will – Shaffik liegt ja nur zwei oder drei Prozent hinter ihm – wird er Zugeständnisse an die Säkularen und Liberalen machen müssen, sowohl personell, als auch programmatisch.

Das heißt, jetzt muss verhandelt werden. Immerhin – und das scheint ja unbestritten – sind die Ägypter im Handeln große Klasse. Sage niemand, dass es um ein Geschachere geht. Wenn hierzulande eine Wahl gelaufen ist, geht es auch erst nach Schließung der Wahllokale ans Eingemachte. Hier nennt man das Koalitionsverhandlungen. So etwas ähnliches wird es in den nächsten drei Wochen auch in Ägypten geben. Das gehört eben genau so zur Demokratie, wie Wahlkampf und Wahlen. Übrigens ist der Wahlkampf bislang ausgesprochen gut verlaufen, gemessen an den apokalyptischen Vorhersagen.

Ich habe auch schon den Einwand gehört: „Der kann jetzt ja viel versprechen, aber ob er es dann nach der Wahl einhält?“ Nein, in diesem Fall geht es ja um feste Abreden. Wenn Mursi zum Beispiel will, dass Abul Futuh sich für ihn ausspricht, muss er ihm etwas bieten, was Futuhs Anhänger bewegt, Mursi die Stimme zu geben. Wenn er dann sein Versprechen vergisst, ist es gut möglich, dass der der Tahrir relativ schnell wieder relativ rege besucht wird.

Umgekehrt gilt das alles natürlich genauso für Shaffik. Ich persönlich glaube aber eher, dass es auf Mursi hinausläuft. Der muss übrigens den Salafisten gar keine Zusagen machen, denn die haben gar keine andere Wahl als die, ihn zu wählen. Das finde ich persönlich übrigens ziemlich amüsant.

Die Ägypter haben bei dieser Wahl einmal mehr gezeigt, dass sie zu jeder Überraschung fähig sind. Vielleicht gilt das ja auch für den endgültigen Wahlsieger und künftigen Präsidenten des Landes. Anwar al Sadat galt als völlig farbloser, uncharismatischer Kompromisskandidat, als er 1970 die Nachfolge des verstorbenen Gamal Abdel Nasser antrat. Als er elf Jahre später ermordet wurde, war Ägypten nicht mehr dasselbe Land. Vielleicht wählen die Ägypter in drei Wochen den neuen Retter ihres Landes.