Ein Jahr danach

Vor genau einem Jahr und einem Tag ist an dieser Stelle der erste Beitrag im Produktionsblog „Koulou tamam, Ägypten?“ erschienen. Zugegeben: Ein Produktionsblog ist diese Seite schon lange nicht mehr. Das Buch ist im Mai erschienen, hat seine Leser gefunden und dem einen oder anderen vielleicht auch Zusammenhänge aufzeigen können, die er zu zuvor noch nicht gesehen hat.

Vier Mal war ich in diesem Jahr in Ägypten – und erlebte, wohl wie die meisten, eine schlimme Achterbahnfahrt. Hoffnung und Optimismus wechselten manchmal täglich mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Trotzdem muss ich sagen, dass meine Grundstimmung am Ende dann eher ins Positive gerichtet war. Da ich mich für das Buch auch sehr intensiv mit der jüngeren Geschichte auseinandergesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sich Ägypten zwar häufiger in völlig hoffnungslosen Situationen befand, aber sich irgendwie immer daraus befreien konnte. Zum Beispiel die Suezkrise oder die katastrophale Niederlage nach dem Sechstagekrieg.

Getreide und Energie werden in Ägypten knapp und teuer. Hier die etwa einen Kilometer Lange Schlange vor einer Tankstelle in Hurghada. Foto: psk

Dieses Mal geht mir so langsam der Glaube daran verloren. Einerseits sind da sie Nachrichten, die direkt aus Ägypten kommen. Nicht über die normalen Kanäle, sondern über Blogs, wie etwa Anderswo: Leben in Hurghada. Was da zu lesen ist, ist zutiefst erschütternd und verstörend. Andererseits weiß nun jeder, der das Land kennt, dass das Schlimmste ja erst noch im Frühjahr kommen wird. Wenn es wirklich zu explodierenden Getreidepreisen auf dem Weltmarkt kommt, wenn der IWF wirklich auf den Abbau der Lebensmittel- und Energiepreise besteht, was dann? Wenn das alles stimmt, dann sollen sich die Preise für Grundnahrungsmittel vervierfachen – und das in einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung schon jetzt nicht mehr genügend Geld zum Leben hat.

Die Moslembrüder drängen mit aller Gewalt an die ganze Macht. Gut. Vergessen wir mal für einen Augenblick solche Kleinigkeiten wie Freiheit oder Demokratie. Sagte nicht schon Bert Brecht: Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Eben. Die für mich vielleicht schockierndste Nachricht in diesem Jahr war nicht Mursis Griff zur Allmacht, es waren nicht die immer wieder schlimmen Bilder vom Tahrir oder neuerdings von vor dem Präsidentenpalast. Nicht einmal die grauenhaften Ereignisse im Stadion von Port Said am 1. Februar haben mich im Innersten so beunruhigt, wie die aktuellen Bevölkerungszahlen. Inzwischen gibt es auf der Welt über 90 Millionen Ägypter. Bislang war man von 80 Millionen ausgegangen. Als ich zum ersten Mal ins Land kam, und das ist nun über 20 Jahre her, waren es noch 60 Millionen. Die Bevölkerung wächst also um mehr als eine Million im Jahr. Man stelle ich das mal vor: In Deutschland würde jedes Jahr irgendwo in der Republik plötzlich eine Stadt in der Größe Köln auftauchen – einfach so.

Ägypten war einst die Kornkammer des Mittelmeerraums. Inzwischen reichen die Anbauflächen bei weitem nicht mehr, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Ägypten muss also Getreide einführen – und das auch noch sobventionieren, damit sich die Menschen überhaupt ihr Brot leisten können. Und nun sind da also die Moslembrüder. Dass sie fromm sind und zu islamischen Werten zurück wollen und die auch der gesamten Bevölkerung überstülpen wollen, lassen wir mal beiseite. Jeder darf nach seiner Facon selig werden. Aber leider gehören zu den islamischen Werten auch zwangsläufig große Familien (warum eigentlich?). Zu den scheinbaren islamischen Werten gehört auch, dass ein Mann möglichst viele Söhne haben sollte und die Töchter nun nicht ganz soviel zählen. Daran werden die Moslembrüder natürlich nicht rütteln.  Sogar Anwar al Sadat, der selbst ein sehr frommer Moslem war, hatte ein Programm zur Familienplanung auf den Weg gebracht und der Erfolg war ziemlich genau null – wenn man die Bevölkerungsentwicklung betrachtet.

Ist solch ein Programm von den Brüdern zu erwarten? Ich versuch mir gerade vorzustellen, wie die Köpfe der Bruderschaft (die ja angeblich nicht dumm sind) dem Mob, den sie auf die Straße geschickt haben, ganz vernüftig die Vorzüge einer Ein-Kind-Familie darlegen. Nein, natürlich sind die Brüder darauf angewiesen, ihre Anhänger mit traditionellen Ansichten bei Laune zu halten. Und genau hier versündigen sich die Moslembrüder an ihrem Land. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Macht, die Unterdrückung der Opposition sind das eine, aber ein ganzes Volk sehenden Auges dem Hungerelend preiszugeben ist noch einmal etwas ganz anderes. Natürlich spekulieren sie in Ägypten auf die Hilfe ihrer arabischen Brüder. Sie wissen ja genau, dass reiche Scheichs aus den Emiraten, Kuweit und Saudi Arabien ihr Geld längst anderweitig angelegt haben: Zum Beispiel in riesige Weizenfelder in Äthiopien(!). Die Ernte landet nicht etwa auf dem Weltmarkt, sondern in riesigen Getreidesilos als wunderbares Spekulationsobjekt für Situationen, wie sie etwa im Frühjahr weltweit drohen.

Die arabischen Brüder werden sich ihre Hilfe aber sehr teuer bezahlen lassen. Und wenn in der Historie auf eines Verlass war, dann auf die Tatsache, dass es unter den arabischen Völkern einfach mal gar keine Solidarität gibt. Schon seit der Antike haben sie sich gegenseitig stets übers Ohr gehauen und selbst der Koran ist voll von solchen Geschichten. Es könnte also gut sein, dass sich die Brüder völlig verspekulieren, wenn sie auf nachbarschaftliche Solidarität setzen.

Ob sich die Opposition viel besser angestellt hätte, wag ich jetzt mal zu bestreiten. Untereinander waren sie seit Beginn der Revolution schon wie Hund und Katz‘. Präsident Mursi hat sie jetzt wieder ein wenig zueinander gebracht. Trotzdem: Eine Werbung für die Demokratie ist das Gehabe der „demokratischen“ Opposition auch nicht. Sie haben es den Brüdern im letzten Jahr schon sehr leicht gemacht. Ich glaube ich habe es an dieser Stelle auch schon mal so geschrieben: Es ist leichter eine Demonstration zu organisieren als eine parlamentarische Mehrheit.

Wenn das Jahr zu Ende geht, haben wahrscheinlich alle Beteiligten gelernt, dass Demokratie eine verflixt schwierige Sache ist, die nur dann gedeihen kann, wenn sich alle nicht nur an Spielregeln, sondern auch an gute Sitten halten. Für die Mehrheit heißt das, die Minderheit nicht mit aller Gewalt zu unterdrücken, und für die Minderheit bedeutet das, nicht einfach wegzurennen, nur weil man keine Mehrheit hat.

Es war kein leichtes Jahr für Ägypten. Und das kommende wird noch schwieriger. Ich gebe zu, dass mir mein Optimismus jetzt ein wenig abhanden gekommen ist. Aber mir bleibt der Trost, dass sich in diesem Land alles ganz schnell wieder ändern kann. Im letzten Januar sagte mir eine gute Freundin, dass sie fürchte, bis spätestens Juni sei hier alles vorbei und sie müsse wieder nach Deutschland. Es kam am Ende alles ganz anders.

Religion und Demokratie

Beim Getöse um Mursi, seine Dekrete, die Zerschlagung der Gewaltenteilung und das Durchpeitschen der neuen ägyptischen Verfassung gerät ein Gedanke irgendwie ins Abseits, obwohl das Wort jeder im Munde führt. Es gab auch hier bei uns in Berlin in letzter Zeit immer wieder hitzige Diskussionen über die Situation in Ägypten, was nicht zuletzt daran liegt, dass eine größere Gruppe aus meinem Bekanntenkreis für Februar die nächste Reise plant.

Normalerweise höre ich gar nicht hin, wenn im Fernsehen Berichte über Islamisten-Demos kommen. Ihr Geschrei und ihre Parolen nerven mich, und es kommt normalerweise nichts Gescheites dabei raus. Auf der Demo auf dem Nahada-Platz meinte einer der Pro-Mursi-Demonstranten: „Ich weiß ja gar nicht, was die (von der Opposition) wollen?! Sie haben doch jede Wahl verloren.“ Verdammt ja – er hat ja recht. Jedenfalls bin ich da ziemlich ins Grübeln gekommen. Nun kann man ja einwenden, dass sich die Demonstrationen gegen Mursis undemokratische Dekrete wenden. Das ist soweit richtig. Aber offenbar ist der Mehrheit der Ägypter völlig egal, was Mursi mit der Gewaltenteilung anstellt.

Vor einem knappen Jahr, nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen, hat mir der Gewerkschafter und Sozialdemokrat Mazen Okasha eine interessante Rechnung aufgemacht. Er sprach davon, dass sich 80 Prozent der Wähler von religiösen Motiven hätten leiten lassen. Ich korrigierte ihn und meinte, es seien doch nur 70 Prozent Islamisten im Parlament. Er lächelte und sagte, ich dürfe die Rechnung nicht ohne die Kopten machen. Die würden auch noch zehn Prozent der Abgeordneten stellen.

Das bedeutet, dass in diesem Land nur 20 Prozent der Wähler aus politischen, 80 Prozent aber aus religiösen Motiven abgestimmt haben. Nun müssen Religion und Demokratie nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben. Auch die katholische Kirche ist nicht gerade für ihre ausgeprägte basisdemokratische Toleranz bekannt. Wer religiös wählt, dem geht es nicht in erster Linie um persönliche Grundfreiheiten, um Gleichberechtigung, Fairness oder allgemeine Teilhabe. Er ist eher interessiert an Grundwerten, an Familie, an Sicherheit, klaren Strukturen und Hierarchien. Je nachdem kann natürlich genau jener Wunsch im völligen Gegensatz zum Beispiel zu persönlichen Freiheiten, zur Pressefreiheit oder zur Meinungsfreiheit stehen. Aber wenn es die Mehrheit in einer Demokratie so will? Was dann? Zum Sturz der Regierung aufrufen? Das ist in so ziemlich jedem Land der Welt – je nach Umsetzungsgrad – eine Straftat. Die einzige legale Möglichkeit einer Opposition innerhalb einer Demokratie ist, diese Regierung abzuwählen. Wenn einer Opposition das nicht gelingt, dann muss sie sich entweder fügen oder ins Exil gehen.

Wenn nur 20 oder 30 Prozent der Ägypter wirklich einen echten demokratischen Staat anstreben, müssten sie dann nicht mit gutem Beispiel vorangehen und sagen: „Ja, wir akzeptieren dieses Votum und arbeiten daran, dass das nächste anders aussieht“? Stattdessen werden Vergleiche mit Mubarak angestellt. Was war noch gleich der Unterschied zwischen Mubarak und Mursi? Nein, auch eine Demokratie ist eine Diktatur, nämlich die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Nur in sehr weit entwickelten demokratischen Gesellschaften findet man so etwas wie Minderheitenschutz.

Wie wollen die „Demokraten“ in Ägypten andere von der Richtigkeit ihres Weges überzeugen, wenn sie ihn selbst nicht einhalten? Was wird nun aus der Verfassung? Angenommen die Abstimmung findet am 15. Dezember statt. Offensichtlich steht die Richterschaft nicht so einhellig hinter dem Wahlboykott wie der Richter-Club sagt. Was, wenn 70 Prozent der Ägypter sagen: „Ja, wir finden es gut, in einem Staat zu leben, der auf Koran und Scharia fußt, denn die Religion gibt uns Sicherheit, Zuversicht und Vertrauen?“ Ja, liebe Demokraten, was dann?

Eine gute Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Minderheiten schützt und einen möglichst breiten Konsens in den wichtigsten gesellschaftlichen Fragen erzielen will. In einer schlechten Demokratie spielt die Mehrheit mit den Muskeln und unterdrückt die Minderheit wo es nur geht. Aber deshalb bleibt es eben trotzdem eine Demokratie. Und da setzt sich eben nicht immer das Beste durch.

Fast ein Jahr habe ich mich gegen den Bau von Stuttgart 21 engagiert. Ich bin auf Demos gegangen, habe Sticker verteilt und kaum eine Minute der Schlichtung verpasst. Am Ende kam es zu der berühmten Volksabstimmung mit einer knappen Mehrheit für den Bahnhof. Natürlich wusste ich, dass Stuttgart 21 Blödsinn ist. Aber natürlich musste ich auch die Volksabstimmung akzeptieren. Und im Zweifel ist mir die Demokratie dann doch wertvoller als ein dusseliger Bahnhof. Inzwischen hat sich übrigens herausgestellt, dass die Kritiker mit fast allen Einwänden Recht hatten; das Ding wird eine Milliarde teurer, und keiner will’s gewesen sein. Hallo! Auch das ist Demokratie.

Ich habe vor einigen Monaten geschrieben, Warum Ägypten kein Islamistischer Gottesstaat wird“. Davon bin ich heute noch überzeugt. Aber es kann sein, dass das Land – von Staats wegen – frommer wird als heute. Und zwar nicht weil es Mursi oder die Moslembrüder so wollen, sondern weil es dafür vielleicht eine Mehrheit in der Bevölkerung gibt. Natürlich ist das dramatisch. Ein Beispiel: Wenn heute in der Bundesrepublik über die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft abgestimmt würde, dann würde es wahrscheinlich zu einer satten Mehrheit für diesen Entwurf kommen. Auch in Ägypten würde es bei einer solchen Abstimmung wohl ein sehr klares Votum geben – nämlich für die Steinigung.

Den demokratischen Kräften Ägyptens wird nichts anderes übrig bleiben: Statt hysterisch und lautstark Rechte einzufordern, müssen sie anfangen, das Land umzukrempeln, sich Mehrheiten schaffen, Überzeugungsarbeit leisten und klar machen, dass die Menschen unter ihrer Regierung deutlich besser leben würden, als unter der Führung von Islamisten. Das ist ein langer und steiniger Weg, der nicht einmal einen Erfolg garantiert. Aber für Demokraten, für wahre Demokraten, ist es der einzig ehrliche und gangbare.

Orientalische Achterbahn

Hoffentlich wohnt dem grauenhaften Unfall vom Sonntag nicht eine schlimme Symbolik inne. Die beiden Minibusse krachten, soweit ich gehört habe,  an der Abzweigung nach Soma Bay zusammen, also ausgerechnet dort, wo Außenminister Guido Westerwelle normalerweise seinen Winterurlaub verbringt – und der musste am selben Tag wegen dieses Unfalls einen Krisenstab bilden. Angesichts der Situation im Land ist die Metaphorik schon ein wenig gespenstisch.

Mörderische Einöde: Einige Kilometer nördlich von dieser Stelle ereignete sich auf dieser Straße der grauenhafte Unfall mit fünf Toten. Foto: psk

Die Straße, auf der der Unfall passierte, kenne ich ganz gut, weil ich im Sommer dort ein paar Mal unterwegs war. Die Küstenstraße hat ja teilweise schon etwas von einer Orientalischen Achterbahn. Es geht auf und ab, und Nervenkitzel ist garantiert. Die Busse sind rasend schnell unterwegs, auch wenn nicht so ganz klar ist, was da hinter der nächsten Kuppe oder Kurve jetzt so kommt. Theoretisch sollte da eigentlich gar nichts kommen, denn genau genommen handelt es sich bei der Küstenstraße nicht um eine, sondern um zwei Einbahnstraßen. Im Grunde ist es ja eine Autobahn, nur dass die beiden Fahrbahnen bisweilen durch einen kilometerbreiten Mittelstreifen getrennt sind. Das ist insgesamt eine sinnvolle Einrichtung, denn dort, wo die Fahrstreifen so weit von einander getrennt sind, gibt es nicht mehr die entsetzlichen Frontalzusammenstöße, für die Ägypten berühmt und berüchtigt war.

In fast jedem Artikel war nun wieder zu lesen, dass die ägyptischen Straßen zu den gefährlichsten der Welt gehören. Über die Fahrweise der Männer hinterm Steuer muss man nun wirklich kein Wort mehr verlieren. Andererseits stimmt es auch, dass in den vergangenen Jahren ein unglaublicher baulicher Aufwand getrieben wurde, um die Verkehrssicherheit zu verbessern – gerade in der Wüste. Hunderte von Kilometern geradeaus durch eine grandiose Einöde machen einen Fahrer jetzt auch nicht gerade aufmerksamer. Am Unfallort wird dieser Aufwand sehr deutlich. Wer von Hurghada kommt, kann nicht einfach links nach Soma Bay abbiegen. Bis vor einiger Zeit war das noch möglich. Inzwischen muss der Fahrer fast einen Kilometer weiter in Richtung Safaga fahren, ehe er auf die Gegenspur wechseln und zurück fahren kann. Auf Google-Maps ist noch sehr gut zu erkennen, wie die Verkehrssituation vorher aussah. Da gab es tatsächlich eine Linksabbiegerspur, und wer nach Soma Bay wollte, musste die Gegenfahrbahn kreuzen! Bei Gegenverkehr, der oft mit über 100 km/h unterwegs war.

Ich weiß nicht, wie sich der Unfall tatsächlich abgespielt hat, aber ich habe eine Vermutung. Da es so aussieht, als sei der eine Minibus seitlich in den anderen gekracht, könnte wohl ein aus Soma Bay kommender Bus bei der Auffahrt zur Küstenstraße den anderen Bus buchstäblich abgeschossen haben. Das ist aber, wie gesagt, nur eine Vermutung. Wenn es wirklich so war, dann nützen natürlich alle baulichen Maßnahmen nichts.

Es ist ja nicht so, dass in dem Land Probleme nicht erkannt werden. Es ist auch nicht so, dass nicht versucht würde, bei Problemen Abhilfe zu schaffen. Aber was hilft das alles, wenn sich die Mentalität nicht ändert? Da kann ein Vollidiot im Hurghada mit seinem Taxi am Hadaba mit Vollgas aus der Kurve fliegen und direkt in einem Café landen – seine Kollegen fahren an der Cafè-Ruine im gleichen mörderischen Tempo vorbei. Sie wissen ganz genau, dass sie genau so aus der Kurve fliegen können. Es schert sie aber nicht. Allah wird’s schon richten.

Und damit kommen ich zur jetzigen Situation. Es scheint mir so, dass ich in meiner Einschätzung von Präsident Mursi dann doch falsch lag. Das allerdings ändert ja nichts an der Analyse der Situation und an den Problemen, vor denen das Land steht. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass möglichst schnell strukturelle Entscheidungen getroffen werden müssen (Lebensmittelversorgung, Energie, Infrastruktur). Und es lässt sich auch schlecht wegdiskutieren, dass Mursi der einzige gewählte Präsident ist. Ergo muss er die Entscheidungen treffen. Aber dieser Machtpoker geht dann doch zu weit. Vor allem wird er dem Land schaden. Eines habe ich allerdings auch immer gesagt: Mursis wichtigste Aufgabe wird es sein, das Land zu einen. Jetzt tut er genau das Gegenteil.

Allerdings darf man bei all der berechtigten Kritik an Mursi auch eines nicht übersehen. Die Säkularen, die Liberalen und die Kopten haben sich in beiden Kammern vom Acker gemacht. Natürlich sind sie immer überstimmt worden. Aber das ist nun mal in einer Demokratie so, dass einer die Mehrheit besitzt und der andere in die Röhre schaut. Die Bereitschaft, dicke Bretter zu bohren, zu verhandeln, immer wieder zu reden und/oder stabile Bündnisse zu schmieden ist in Ägypten nicht besonders ausgeprägt (dabei können sie doch angeblich so gut handeln!). Ich erinnere nur an den Ägyptischen Block. Es ist eben immer noch einfacher, eine Demonstration zu organisieren, als eine Mehrheit. Und damit sind wir wieder auf der Straße angelangt.

Egal ob auf den Tahrir- oder dem Nahada-Platz. Mit kommen beide Gruppen im Moment so vor, wie zwei Minibusfahrer, die sich ein mörderisches Rennen liefern. Eigentlich wissen beide ganz genau, dass es irrsinnig gefährlich ist, was sie gerade veranstalten. Aber es schert sie nicht – so lange nicht, bis es knallt.