Ein Blick in die Zukunft?

Zweieinhalb Wochen dauerte meine Juni-Reise nach Ägypten. El Qesir, Sagafa und Hurghada waren die Stationen. Und ich erlebte Erstaunliches. Vorab zunächst das Fazit: Die Stimmung hat sich deutlich verbessert. Vor allem im Süden sind manche Hotels schon fast wieder voll. Dass auch wieder Gäste ins Land kommen, die Ägypten zum ersten Mal besuchen, spüren unter anderem die Tauchbasen. Sie verzeichenen einen deutlichen Anstieg von Kursen, ein wichtiges Geschäft, das in den letzten Monaten praktisch komplett weggebrochen ist.

Und die Ägypter? Viele von ihnen entwickeln offensichtlich einen wahren Bekennerdrang, sich zur politischen Lage zu äußern. Ich bin noch nie so oft von Ägyptern ungefragt in politische Diskussionen verstrickt worden. War bislang die am häufigsten gestellte Frage in einem Taxi „Where do you come from?“ wurde ich dieses Mal von der überwiegenden Mehrzahl der Fahrer mit der Frage konfroniert, was ich von Präsident Sisi halte. Ich antwortete stets ausweichend: Ich wisse es nicht so genau, ich hätte ihn ja noch nie reden hören oder bei öffentlichen Auftritten gesehen. Und das war dann der Startschuss zu ausschweifenden Lobeshymnen.

Zwei Dinge scheinen die Ägypter ganz besonders zu freuen: Er hat alle Staatsbediensteten dazu verdonnert, morgens um sieben an ihren Schreibtischen zu sitzen. Und dann findet er, dass seine Landsleute mehr Radfahren sollten und hat sie zu einer gemeinsamen Radtour eingeladen. Oder die Geschichte mit dem subventionierten Essen für die Armen. Zum ersten Mal wird da der Speiseplan um Fleisch bereichert. Das kommt bei den überwiegend frommen Ägyptern gut an. Die frommen Moslembrüder kamen nicht auf diese Idee. Außerdem hat er versprochen mehr Strom zu produzieren. Das scheint dringend nötig. Gestern fiel während meiner Wartezeit auf dem Flughafen gleich drei Mal der Strom aus.

Auf der Fahrt dorthin dachte ich schon, ich hätte endlich den ersten Sisi-Kritiker am Steuer. Der junge Mann mit den tiefen Ringen unter den Augen sah ganz melancholisch aus. In der Schlange vor dem Kassenhäuschen an der Flughafenzufahrt begann er plötzlich auf die Regierung zu schimpfen. Ich fragte zögernd, ob er damit die Stadt, die Region oder das Land allgemein meine. Nein, alle, alle seien sie ganz schrecklich. „Aber mit Präsident Sisi wird das jetzt alles anders.“

Das ist nun die eine Seite, die andere ist die mehr als bedauerliche Tatsache, dass während meines Aufenthaltes einige Journalisten von Al-Dschasira zu ganz drakonischen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hat das alles wenig zu tun. Doch es scheint so, dass der überwiegende Teil der Ägypter diese Urteile ganz okay findet – wie im übrigen auch die Todesurteile von El Minja. Und genau da tut sich eine Diskrepanz auf, die jeden aufrechten Demokraten sehr schmerzen muss.

Die Parlamentswahlen von 2012 ergaben bei einer Wahlbeteiligung von weit unter 50 Prozent eine Mehrheit von rund 70 Prozent für islamistische Parteien. Hinzu kamen 10 Prozent für koptische Parteien. Das heißt, 80 Prozent der Ägypter haben damals religiös motiviert abgestimmt. 20 Prozent gingen an säkulare, demokratische Parteien. Setzt man diese Zahl noch mit Nichtwählern in Bezug, dann kann sich die Demokratie, oder das, was wir im Westen dafür halten, gerade mal auf zehn Prozent der wahlberechtrigten Ägypter stützen. Nun ist ja eine Demokratie letztlich auch nur eine Diktatur – eine Diktatur, in der die Mehrheit bestimmt, wo es lang geht. Das, was wir als freiheitlich und rechtsstaatlich verstehen, ist ja nur der Versuch, diese Diktatur der Majorität durch Konsensentscheidungen und Minderheitenschutz ein wenig humaner zu gestalten.

Präsident Abdel Fatah al-Sisi: Ist er die Medizin, die Ägypten jetzt braucht? Viele seiner Landsleute sind davon überzeugt. Foto: psk

Präsident Abdel Fatah al-Sisi: Ist er die Medizin, die Ägypten jetzt braucht? Viele seiner Landsleute sind davon überzeugt. Foto: psk

Zu Freiheit und Demokratie gehört zwangsläufig eine freie Presse. Nun haben es die Ägypter ja mit der Demokratie versucht, mit dem Resultat, dass dabei ein Regime herauskam, das im Begriff war, einen islamofaschistoiden Staat zu errichten. Dass die freie Presse nach dem grandiosen Scheitern Mursis auch noch besserwisserisch kommentierte, sie hätten doch diesen Mursi selbst gewählt und müssten ihn nun mal ertragen, hat so manche Ägypter verbittert. Wie so vieles, was dieser Tage vor ägyptischen Gerichten passiert, hat auch dieses Urteil eher symbolischen als juristischen Charakter (ich glaube weder, dass die Reporter sieben Jahre im Knast bleiben, noch dass die Todesurteile vollstreckt werden). Es ist ein Ausdruck dafür, dass sich Ägypten von ausländischen Medien missverstanden und ungerecht behandelt fühlt. Da war das „CNN des Ostens“ das ideale Objekt um, ein Exempel zu statuieren. Doch so manche Tränen, die westliche Journalisten um ihre Kollegen von Al Dschasira vergießen, sind bestenfalls Krokodilstränen. Nach meinem Dafürhalten wird über Ägypten in allen wichtigen Medien seit über einem jahr nicht mehr fair berichtet. Büßen mussten das jetzt die Al-Dschasira-Leute mit absolut inakzeptablen Strafen.

Letzte Woche war ich in einer Strandbar in Sekalla, wo kaum Touristen hinkommen. Da kommen etwa 15 Teenager herein, alle zwischen 12 und 18, um einen Geburtstag zu feiern, die Hälfte Jungs, die Hälfte Mädchen. Keine von ihnen trug ein Kopftuch oder gar einen Schleier, dafür die meisten eher knappe Röcke. Ein DJ legte Techno-Mucke auf und die Kids hatten offenbar einen Riesenspaß. Irgendwann kam die mutmaßliche Mutter. Smaragdgrünes Gewand, der passende Schleier und sie strahlte wie ein Sonnenschein.

Vor einem Jahr wäre das – selbst in Hurghada – undenkbar gewesen. Da hätten die – frei gewählten(!) – fusselbärtigen Tugendwächter von „Freiheit und Gerechtigkeit“ oder „El Nur“ schon vor der Bar gewartet und den Jugendlichen mal so eine richtige Abreibung verpasst.

So, liebe Freunde, jetzt gewinnt mal diese Jungs und Mädels für die Demokratie zurück. Aber wenn dieses kleine Geburtstagsfest ein Blick in Ägyptens Zukunft war, dann ist sie vielleicht unbeschwerter, als wir das alle heute noch ahnen.

Die Bekenner

Jetzt scheint es klar, wer hinter dem Anschlag auf den Touristenbus in Taba steckt. Bekannt hat sich zumindest die Gruppe Ansar Beit al Maqdis zu dem Attentat. Was allerdings besonders beunruhigend scheint, ist die Tatsache, dass das Bekenntnis mit einem Ultimatum verknüpft wurde. Bis 20. Februar sollen alle Touristen das Land verlassen, danach werden sie als legitime Ziele betrachtet. Aha, die drei getöteten südkoreanischen Touristen waren demnach keine legitimen Ziele in den Augen ihrer Attentäter? Soviel Zynismus muss an dieser Stelle sein.

Aber was sagt uns die Organisation? Ansar Beit al Maqdis wurde vermutlich im Februar 2011 gegründet und zwar unter anderem von Gefängnisinsassen, die von der Hamas nahestehenden Gruppen befreit wurden. Einer der Befreiten war damals übrigens ein gewisser Mohammed Mursi, dem unter anderem genau wegen diesem Sachverhalt gerade der Prozess gemacht wird. Allerdings geht es in dem Prozess auch noch um etwas ganz anderes: Letztlich soll auch die Frage geklärt werden, ob Mursi in seiner Zeit als Präsident Organisationen wie Ansar Beit al Maqdis finanziell und logistisch unterstützt hat. Insgesamt gibt es mindestens fünf verschiedene Gruppen, die den Norden des Sinais seit geraumer Zeit zu einem rechtsfreien Raum machen. Gemein ist ihnen allen, dass sie von der Hamas unterstützt werden, Al Qaida nahestehen und mit Vorliebe ägyptische Polizisten und Soldaten umbringen.

Gut bewacht werden Touristenbusse in vielen Gegenden schon heute. Foto: psk

Gut bewacht werden Touristenbusse in vielen Gegenden schon heute. Foto: psk

Jetzt werden zumindest von dieser einen Organisation Touristen direkt und explizit bedroht. Wie ernst ist das zu nehmen? Zunächst einmal bedeutet das bei einer Terrororganisation einen völligen Paradigmenwechsel. Seit den 90er Jahren hatte sich im Gefüge der terroristischen Gruppen in Ägypten die Erkenntnis durchgesetzt, dass Anschläge auf Touristen den eigenen Zielen mehr schaden als nützen. Schon einmal, Anfang der 90er Jahre war der Tourismus erklärtes Ziel islamistischen Terrors. Die Folge war, dass Organisationen wie die Gama al Islamiyya rapide an Ansehen und vor allem Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Das gipfelte schließlich im Zusammenbruch und der teilweisen Auflösung der Gama im Jahr 1998. Einflussreiche Terrorfürsten wie der Kinderarzt Aiman al Zawahiri mussten das Land damals fluchtartig verlassen. Er schloss sich später Osama bin Laden an und und ist heute dessen Nachfolger als Chef der Al Qaida.

Die Ereignisse von 1997 und 1998 – also erst die Anschläge von Kairo und Luxor mit insgesamt über 70 Toten und die teilweise Selbstauflösung der Gama im darauffolgenden Frühjahr – bedeuteten allerdings nicht etwa das Ende des Terrorismus. Die Devise hieß schon damals: Jeden Tag ein toter Polizist. Und das wurde auch umgesetzt. Im Westen hat man darüber jedoch kaum etwas erfahren. Das alles zu Zeiten von Hosni Mubarak.

Nun scheint es sich gerade wieder umzudrehen. Was nun einerseits alarmierend scheint, ist die Tatsache, das die Gruppe Ansar Beit al Maqdis, die im Norden des Sinais operiert, gar nicht auf den Rückhalt der Bevölkerung angewiesen ist, wie es vor rund 20 Jahren die Gama al Islamiyya war. Also müssen sie auch keine Rücksicht auf das Geschäft mit dem Tourismus nehmen.

Allerdings lassen die Bekenntnisse der Gruppe auch noch einige andere Schlüsse zu: Offfenbar scheint der Druck der Regierung inzwischen so massiv und offenbar auch so wirkungsvoll zu sein, dass wenigstens eine Organisation zu einem Mittel greift, dass jahrelang tabu war. Außerdem lässt das Ganze auch noch darauf schließen, dass sich die Gruppen untereinander völlig uneins sind. Das könnte sie vielleicht schwächen. Interessant ist allerdings noch ein ganz anderer Punkt: Viele hochrangige Moslembrüder haben selbst viel Geld in der Tourismusbranche stecken. Wenn auf die keine Rücksicht mehr genommen wird, dann könnte es sein, dass die Brüder inzwischen am Ende sind.

Schließlich ein letzter Punkt. Allzu viel ist über Ansar Beit al Maqdis nicht bekannt. Wenn aber nur die Hälfte von dem stimmt, was über die Gruppe kolportiert wird, dann dürfte das Bekenntnis zu dem Anschlag in Taba den einstigen Staatspräsidenten Mohammed Mursi dem Galgen ein gehöriges Stück näher gebracht haben.

Jetzt ist es doch passiert

Vier Tote bei einem Bombenanschlag auf einen Touristenbus bei Taba. Jetzt ist es also doch passiert. In Ägypten wurden Touristen angegriffen. Das dürfte die schwerst notleidende Tourismusindustrie noch tiefer in die Knie zwingen und Wasser auf den Mühlen all jener sein, die schon immer gesagt haben, dass Ägypten ein ganz gefährliches Pflaster für Touristen ist. Jetzt also der Beweis. Ist das so?

Taba liegt an einem ganz neuralgischen Punkt im Nahen Osten. Karte: OpenStreetMap.org

Taba liegt an einem ganz neuralgischen Punkt im Nahen Osten. Karte: OpenStreetMap.org

Taba liegt am Ende des Golfs von Aqaba, unmittelbar an der israelischen Grenze. Hier hat es übrigens den zweitschwersten Anschlag auf Touristen in Ägypten überhaupt gegeben. Bei einem Selbstmordanschlag mit einer Autobombe auf das Hilton-Hotel starben vor zehn Jahren 34 Menschen. Ein Jahr nach dem zweiten Golfkrieg war die Sicherheitslage in Ägypten wie im gesamten Nahen Osten nicht gerade gut. Trotzdem: Der Tourismus lief ganz ordentlich.

Die eigentliche Frage im Zusammenhang mit dem Anschlag vom 16. Februar ist doch: Was bedeutet er? Ist er ein Zeichen dafür, dass der Tourismus nun in die innerägyptischen Machtkämpfe hineingezogen wird? Bedeutet der Anschlag, dass jetzt auch die Tourismuszentren an Roten Meer nicht mehr sicher sind? Betrachten wir einmal die Fakten.

Der Norden des Sinais gilt schon seit langem als nicht mehr kontrollierbar. Terrororganisationen wie Al Qaida oder Dschihad haben sich dorthin zurückgezogen und liefern sich schon seit langem einem blutigen Krieg mit den Sicherheitsbehörden. Die Region ist der Kontrolle der ägyptischen Regierung schon längst entglitten.

Taba liegt nicht in dieser Region – andererseits liegt kein Touristenort in Ägypten näher an den umkämpften Gebieten. Doch das alleine macht Taba noch nicht gefährlich. Die Sicherheitslage ist auch noch deshalb ganz besonders sensibel, weil Taba der Grenze zu Israel so nahe ist. Der nächste Nachbar heißt Eilat – und das liegt bekanntermaßen auf israelischem Gebiet. In dem bereits erwähnten Hilton-Hotel gibt es eine Hintertür, und wenn man durch die das Hotel verlässt, steht man schon in Israel. Schließlich gibt es auch noch einen letzten Punkt, der die heikle Lage von Taba verdeutlicht. Die andere Nachbarstadt von Eilat heißt Aqaba. Die wiederum liegt in Jordanien – und dort leben über 50 Prozent Palästinenser.

Nicht ganz unwesentlich dürfte im Zusammenhang mit dem Anschlag vom Sonntag sein, dass der Bus aus Israel kam. Es ist also durchaus möglich, dass die Bombe, die den Bus zerfetzte, rein gar nichts mit dem Machtkampf zwischen Regierung und Moslembrüdern zu tun hat, sondern dass sie eigentlich Israel galt. Interessanterweise gibt es, bislang wenigstens, kein Bekennerschreiben. Das ist insofern ungewöhnlich, als dass die meisten Attentäter in dieser Region durchaus Wert darauf legen, dass die Welt erfährt, wem sie den Anschlag zu verdanken hat.

Es wird nicht der letzte Anschlag in Ägypten gewesen sein, und es wird bestimmt auch noch eine Weile dauern, bis wieder Ruhe im Land eingekehrt ist. Doch den Terrorakt von Taba als Zeichen für die Verschärfung der Auseinandersetzungen oder gar den Auftakt zu einer Terrorwelle gegen Urlauber zu sehen, ist meiner Meinung nach vefehlt. Angesichts der vier Todesopfer und der 18 Schwerverletzten fällt es schwer, das zu sagen, weil es ein wenig zynisch klingt – aber es ist leider die Wahrheit: Der Anschlag von Taba war nur einer dieser ganz alltäglichen Anschläge, wie sie im Nahen Osten leider Gottes an der Tagesordnung sind.

Teilen – aber wie?

Es ist ja eine traurige Tatsache in Ägypten: Wer an der Macht ist, haut seinem Gegner erst mal so richtig eins über die Rübe. Das war bei den Moslembrüdern so, und das scheint inzwischen bei der herrschenden Regierung auch nicht anders zu sein. Es sind ja nicht nur die Moslembrüder, die Prügel beziehen, sondern auch die, die drei Jahre nach dem Sturz von Hosni Mubarak fürchten, dass das alte Regime in Form einer Militärdiktatur zurückkommt.

Auch die ägyptischen Goldminen gehören zum Wirtschaftsimperium der Armee. Foto: psk

Auch die ägyptischen Goldminen gehören zum Wirtschaftsimperium der Armee. Foto: psk

Genau diesen Satz hört man nun immer öfter. Aber im Grunde ist er unsinnig. Wenn wir das Rad der Geschichte um drei Jahre zurückdrehen, dann stellt sich die Sache doch ganz, ganz anders dar. Mubarak wurde ja nicht deshalb gestürzt, weil man einen blutigen Militärdiktator beseitigen wollte. Es ist ja auch eine schlecht abzuleugnende Tatsache, dass der absolut größte Teil der Ägypter mit den ersten 20 der knapp 30 Regierungsjahre von Mubrak ganz zufrieden waren. Der Aufruhr begann doch erst, als die Familie Mubarak in Gestalt von Frau Suzanna und Sohn Gamal versucht hatte, den Staat zur persönlichen Beute zu machen. Das war dann selbst im Bakschisch-Wunderland Ägypten zu viel des Guten. Und weil das in Tunesien so gut geklappt hatte, machte man kurzerhand eine Revolution und fegte den Alten hinweg.

War das so? Am Ende war es der Oberste Militärrat (SCAF), der Mubarak förmlich auf seinem Stuhl in den Hubschrauber tragen musste. Und der SCAF übernahm dann praktischerweise auch gleich mal die Regierung. Es ist schon ziemlich erstaunlich, dass die Welt vor drei Jahren nicht von einem Militärputsch gesprochen hat. Die Begründung war ja einfach: Das Militär hatte schließlich nur den Willen der Millionen auf dem Tahrirplatz exekutiert (das darf jetzt jeder verstehen, wie er mag).

Komischerweise standen zweieinhalb Jahre später noch viel mehr Millionen auf der Straße. Mursi wurde auch nicht von den Militärs gedrängt, sein Amt aufzugeben. Der Präsident hatte sich aus Angst vor der Armee in eine Kaserne der Republikanischen Garde geflüchtet, die ihn dann einfach nicht mehr raus ließ. Im Gegensatz zum Machtwechsel 2011 hatte das Militär keine Sekunde lang die Macht in Händen. Trotzdem spricht man bei den Ereignissen von Juni und Juli 2013 von einem Militärputsch. Da versteh einer die Welt.

Im Prinzip ist es aber schon richtig. Das Militär bleibt ein Staat im Staat und bestimmt letztlich, wo es in Ägypten langgeht, politisch und wirtschaftlich. Da der glorreichen ägyptischen Armee auch fast die Hälfte des Landes gehört, könnte man ja fast schon von einem Mehrheitsentscheid sprechen. Aber Spaß bei Seite. Tatsächlich gilt diese große Ansammlung vor allem der wirtschaftlichen Macht beim Militär, als eines der größten Probleme des Landes. Und die Lösung klingt ja so einfach. Das Militär soll sich doch bitte von seinen Nudelfabriken, Mineralwasserbrunnen, Tankstellen, Klopapiermanufakturen, Reisebüros, Aluminiumwerken, Keramikbetrieben und all dem anderen Plunder trennen, der 44 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Ist ja auch klar, Nudel- und Klopapierhersteller in Ägypten, die nicht auf unbezahlte Wehrpflichtige als kostenlose Arbeitskräfte zurückgreifen können, haben auf dem Markt von Nudeln und Klopapier einen denkbar schlechten Stand.

Doch nun mal die Gegenfrage: Was würde denn mit Ägypten passieren, wenn morgen früh General Fatah al Sisi erwachen würde und sein erster Gedanke wäre: „Weg mit dem ganzen Schrott, wir verkaufen oder verschenken jetzt einfach alles!“? Natürlich muss das Militär teilen – alleine die Formel fürs verantwortungsvolle Verteilen muss erst einmal gefunden werden. Es ist natürlich einfach, die Missstände in Ägypten zu benennen. Das kann so ziemlich jeder, der sich nur ein klein wenig mit dem Land beschäftigt hat. Aber ich habe andererseits noch keinen einzigen Menschen erlebt, der auch nur ansatzweise so etwas wie eine Lösung angeboten hätte.

Natürlich muss sich das Militär von seinem Wirtschaftsimperium trennen. Aber wie soll es das tun, ohne dass in Ägypten der ganze Laden endgültig zusammenbricht? Vielleicht erinnert sich ja noch der eine oder andere daran, als die alte Bundesrepublik 1990 die Industrieparks der angeblich siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt übernommen hatte. Am Aufbau Ost werkelt Deutschland inzwischen seit 25 Jahren herum – und das mit der wirtschaftlichen Potenz Westdeutschlands im Rücken. Wer würde denn Ägypten helfen, wenn die Militärs die Firmen auf den Markt werfen würden? Die Saudis? Das kann ernsthaft niemand wollen.

Was soll man davon halten?

Zugegeben, 98,1 Prozent Zustimmung für eine Verfassung ist ein Ergebnis, das einen als aufrechten Demokraten nachdenklich werden lässt. Solche Ergebnisse wecken stets eine Erinnerung an Zeiten, in denen demokratische Prozesse in Deutschland lediglich als fades Deckmäntelchen dienten. Allerdings wäre es jetzt auch wieder zu einfach, zu sagen, die ägyptischen Generäle hätten nur so zum Schein über einen irrelevanten Verfassungsentwurf abstimmen lassen. Wie immer liegen die Dinge in Ägypten weit komplizierter.

Nicht die Zustimmung, sondern die Anzahl der Wähler sei die entscheidende Größe bei diesem Votum, hatte es schon vor Wochen geheißen. 38,6 Prozent waren an die Wahlurnen gegangen. Erstaunlich, wenn man die Bilder von den langen Schlangen vor den Wahllokalen in Kairo gesehen hat, wo die Menschen oft bis in die späten Abendstunden anstehen mussten. Aber auch das zeigt einmal mehr: Kairo und Alexandria sind eben nicht Ägypten. Je weiter es nach Süden ging, desto geringer wurde die Wahlbeteiligung. Ist ja kein Wunder, mag nun der geneigte Ägyptenkenner zu bedenken geben, denn Oberägypten ist ja auch Moslembrüder-Land. Ja, ja, es ist schon richtig, dass die Moslembrüder zum Wahlboykott aufgerufen hatten. Aber als sie über ihre eigene Verfassung abstimmen ließen, war die Wahlbeteiligung noch viel miserabler.

Die höchste Wahlbeteiligung überhaupt gab es in Ägypten beim zweiten Durchgang um die Präsidentschaftswahlen. Da lag sie bei 51 Prozent, und es kam zum Showdown zwischen Mursi und Shaffik. Nun gibt es durchaus Menschen, die einfach deshalb an der Demokratiefähigkeit Ägyptens zweifeln, weil die Wahlbeteiligung seit drei Jahren notorisch niedrig ist. Kann das ein Kriterium sein? Nur mal ein Beispiel: In der Schweiz, dem Hort der direkten Demokratie, hat es seit fast 40 Jahren keine Wahl zum Parlament mehr gegeben, in der die Wahlbeteiligung über 50 Prozent lag.

Trotzdem: Das Referendum ist für die provisorische Regierung und General Fatah al Sisi Sieg und Niederlage zu gleich. Es gelang eben nicht, wie erhofft mindestens mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu mobilisieren. Andererseits gab es noch in keiner Verfassung Ägyptens soviel Bürgerrechte und Minderheitenschutz. Doch diese Freiheit wiederum findet ganz schnell ihre Grenzen im Willen des Militärs.

Fazit: Ägypten hat eine gute Verfassung, und wenn die Militärs von ihren eher freiheitsfeindlichen Rechten, die ihnen dieser Verfassung gewährt, möglichst wenig Gebrauch machen, dann wird die Regierung auch das Vertrauen von jenen gewinnen, die dieses Mal nicht zur Wahl gegangen sind. Auch wenn viele dem Militär misstrauen – und es hat in den Wochen vor dem Referendum durchaus Anlass dazu gegeben – so ist die jetzt gebilligte Verfassung per se nicht schlecht, aber eben auch nur ein erster Schritt auf einem langen Weg.

Gute Presse

Ich gestehe: Es gibt Leute, auch Kollegen, die der Meinung sind, ich sei nicht immer ganz objektiv, wenn es um Ägypten gehe. Zumindest würde ich Ägypten dann doch ein wenig zu wichtig nehmen. Ich frage mich dann immer, ob sie das gleiche auch zu ihren Kollegen in der Autoredaktion sagen würden. „He, Kumpel, ich glaube, du nimmst Autos einfach zu wichtig!“ Ja, meine Güte, über was soll er als Autoredakteur denn sonst schreiben? Über Brezeln? Dann wäre er bei der „Bäckerblume“! Und so ist es eben auch bei mir. Ich habe vier Bücher über den Tourismus in Ägypten geschrieben, wie sollte ich Ägypten dann nicht wichtig nehmen? Soll ich mich jetzt auf Spitzbergen spezialisieren?

Umstritten im Kollegenkreis: Die einwöchige Pressereise ans Rote Meer. Foto: psk

Umstritten im Kollegenkreis: Die einwöchige Pressereise ans Rote Meer. Foto: psk

Die Reise nach Ägypten war im Kollegenkreis durchaus nicht unumstritten. Es gab bei den Reisejournalisten Kollegen, die stellten sich schlicht auf den Standpunkt, dass in ihrem Reiseteil Ägypten derzeit nicht vermittelbar ist. Andere mutmaßten, dass es sich ja hier nur um eine groß angelegte Propagandafahrt des ägyptischen Tourismusministeriums handeln könnte. Ja! Und? Sind nicht alle Pressereisen Propagandafahrten der jeweiligen Veranstalter? Dafür sind wir Journalisten, um genau mit solchen Dingen umzugehen. Wenn der VW-Konzern an einem milden Frühlingswochenende ausgewählte Motorjournalisten zu einer Probefahrt des neusten Modells nach Marbella einlädt (inlusive Flug und Hotel), dann macht das VW auch nicht deshalb, damit die Journalisten ganz besonders kritisch und genau hinsehen. Trotzdem wäre es wahrscheinlich eine berufliche Fehlentscheidung, an solch einer Reise nicht teilzunehmen.

Nun kenne ich niemanden aus meinem beruflichen Umfeld, der jemals einen Kollegen dafür kritisiert hätte, an Pressereisen oder den in der Branche aus guten Gründen so beliebten und gefürchteten Bilanzpressekonferenzen teilzunehmen. Aber offenbar scheint die ägyptische Krise viele Mechanismen bei der schreibenden Zunft außer Kraft zu setzen. Ich habe mich an dieser Stelle schon das eine oder andere Mal darüber gewundert, was die deutschen Korrespondeten in Kairo sehen und was sie nicht sehen wollen. Selektive Wahrnehmung führt schließlich auch zu selektiven Urteilen. Aber nun denn – sie müssen es selbst wissen.

Bei der Informationsreise für Reisejournalisten war zunächst ziemlich unübersehbar, dass doch einige Fachmedien diese Reise ungenutzt ließen. Das ist, in der besonderen Situation, in der Ägypten steckt, schon für sich genommen ein sehr erstaunlicher Akt. Er ist eigentlich nur darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die der Einladung nicht folgten, Ägypten bereits als Reiseland abgeschrieben haben und es somit auch nicht mehr als in ihren Zuständigskeitsbereich gehörend betrachten. Auf dem Standpunkt kann man ja stehen. Ich halte ihn für ziemlich zynisch und unreflektiert.

Doch was ich dann in Ägypten erlebte, verschlug mir dann doch die Sprache. Da wurde der mitreisende Journalist eines Internetmediums mit dem Facebook-Posting eines Kollegen eines großen Tauchmagazins konfrontiert. Der schrieb dem Kollegen, dass solch eine Reise sicher „nett für Hobby-Journalisten“ sei, aber dass sich ernsthafte Journalisten von solch einer Reise fernzuhalten hätten. Solche Reisen würden ja eh nichts bringen. Nun könnte man in diesem Fall von einem tragischen Einzelfall sprechen, wenn nicht gerade im Umfeld der ägyptischen Krise manch merkwürdige journalistischen Dinge geschähen, die so gar nichts mehr mit dem zu tun haben, was ich vor 30 Jahren in meinem Tageszeitungsvolontariat mal gelernt habe (was ich bis zum heutigen Tag für einen der besten und ehrlichsten Wege in den Journalistenberuf halte).  Aber jemand der sich – auch noch coram publico – auf solche Weise an einen Kollegen wendet, stellt damit genau drei Dinge unter Beweis: 1. Er ist völlig arrogant und würdigt andere Kollegen herab. Schlau ist das jedenfalls nicht. 2. Er ist dumm, weil er sich freiwillig Informationsquellen beraubt, die er ja nicht kennenlernen kann, wenn er sich nicht an der Reise beteiligt. 3. Er ist ein lausiger Journalsit, weil er es offensichtlich für unmöglich hält, innerhalb von einer Woche selbst journalistisch wertvolle Quellen zu erschließen.

In dem genannten Fall sprechen wir jetzt „nur“ von Reisejournalisten. Ich weiß aus eigener, leidvoller Erfahrung, wie ich bei anderen Fachressorts in den letzten beiden Jahren vor die Wand gelaufen bin. Andererseits sehe ich Korrespondenten in deutschen Leitmedien schreiben, die in ihrer gesamten Zeit in Ägypten offensichtlich noch nie ein freundliches Wort für das Land übrig hatten. Andererseits hat der Spiegel nun den allseits hochgeachteten und in ägyptischen Belangen nahezu unantastbaren Chef der Auslandspressepresse, den 76jährigen Volkhard Windfuhr, aus dem Impressum entfernt. Der hatte in einer Pressemitteilung seiner Wut darüber Luft gemacht, dass die ausländischen Medien ausschließlich die Repressalien des Staatsapparats im Blick hätten, die Schandtaten des Moslembrüder aber ausklammerten. Windfuhrs Pech war, dass ausgerechnet zu jener Zeit ein Spiegel-Kollege festgenommen worden war.

Es ist auch verwunderlich, dass das ZDF in seiner Berichterstattung über die Ereignisse in Ägypten (laut eigener Mediathek) ihren ausgewiesensten Experten, Dietmar Ossenberg, zum letzten Mal am 12. Juli zu Wort kommen ließ. Dabei lässt sich dem ehemaligen Leiter des Auslandsjournals ganz bestimmt nicht einseitige Berichterstattung vorwerfen. Er ist in der Vergangenheit für seine Ausgewogenheit stets hoch geschätzt worden. Ob sie inzwischen noch immer gewollt ist? Ich weiß es nicht.

Wir sind im Westen immer schnell dabei, Ägypten auf seiner Suche nach einer stabilen Demokratie schlaue Ratschläge zu geben. Eine freie Presse gehört sicher dazu – und hier hat sich, allen Beteuerungen zum Trotz, noch kein Regime in Ägypten hervorgetan, auch das derzeitige nicht. Aber eine stabile Demokratie braucht auch eine ausgewogene und faire Presse – und dafür kann die westliche Presse mit ihrer Berichterstattung über Ägypten derzeit eher kein Vorbild sein.

Die Mär vom Militärputsch

Es war ein faszinierender Abend in der Berliner Urania. Eingeladen hatte der ägyptische Botschafter Mohamed Hagazy zu einem Konzert des Light-and-Hope-Orchestra. Das besondere an diesem Symphonieorchester ist: Es besteht aus 50 blinden Frauen aus Ägypten. Ohne Notenblätter und ohne einen Dirigenten am Pult ein zweistündiges Konzert zu geben, ist schon eine ganz erstaunliche Sache.

Das Light-and-Hope-Orchestra in der Berliner Urania. Foto:psk

Das Light-and-Hope-Orchestra in der Berliner Urania. Foto: psk

Es hätte eine dieser positiven Nachrichten sein können, die Ägypten so dringend braucht. Doch natürlich wurde auch an jenem Abend vor der Urania von einer Handvoll Demonstranten gegen den vorgeblichen Militärputsch protestiert. Einer hatte es auch in den Saal geschafft, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er das wunderbare Konzert nicht gestört hat. Nach dem frenetischen Applaus und den Standing Ovations schaffte es der Demonstrant auf die Bühne – und bedankte sich zunächst sehr lautstark für das schöne Konzert, lobte Ägypten. Da schallte ihm noch ein vielstimmiges, wenn auch leicht verwirrtes „Shukran“ entgegen. Als er aber dann auf die 50 Toten vom Vortag zu sprechen kam, wurde er fix von der Bühne entfernt. Botschafter Hagazy rettete die Situation und den Abend kurzerhand damit, dass er ein ägyptisches Volkslied anstimmte, das der ganze Saal begeistert mitsang.

Das wäre es doch, wenn das ganze Land seine Proteste, seine Probleme und seine Gewalt einfach wegsingen könnte. Mich persönlich würden die Proteste der verbliebenen Moslembrüder weit mehr überzeugen, wenn sie statt Knarren Blumen in der Hand hätten. Soll jetzt niemand sagen, dass sie sich damit nicht gegen Polizei oder Militär wehren könnten. Wenn sie nämlich sowieso für ihre Überzeugung sterben wollen, ist es doch letztlich völlig egal, was sie in der Hand haben. Und Gewaltlosigkeit war am Ende dort allemal erfolgreicher, wo Jahrzehnte des Blutvergießens nichts gebracht hatten – siehe Indien.

Doch so lange die Mär vom Militärputsch weiter Verbreitung findet, so lange wird das wohl auch nichts mit der Gewaltlosigkeit. Mit dem Verweis auf den Militärputsch rechtfertigen die Moslembrüder ja ihrerseits ihre Gewalt. Doch jeder der dieses Wort vom Militärputsch so locker im Munde führt – und das sind längst nicht nur Moslembrüder – hat bislang offensichtlich einen völligen Widerspruch in der jüngsten Ägyptischen Geschichte gar nicht auf dem Schirm. Wenn das nämlich ein Putsch war, was war dann die glorreiche Revolution von 2011? Vergleichen wir mal beide Ereignisse:

2011 begannen die Proteste am 25. Februar. Das Militär verhielt sich zunächst neutral. Am 11. Februar wurde Hosni Mubarak von den Militärs zum Rücktritt gezwungen, die anschließend die Macht in Form des SCAF, des obersten Militärrats, übernahmen. Sie gaben sie anderthalb Jahre auch nicht wieder her.

2013 begannen die Proteste am 30. Juni. Die offensichtliche Mehrheit des Volkes forderte Neuwahlen. Das Militär verhielt sich nicht neutral, schloss sich den Forderungen an. Mursi flüchtete sich in eine Kaserne (er wurde nicht mal irgendwo festgenommen) und wurde dort festgehalten. Der Oberbefehlshaber beruft einen runden Tisch ein und bestimmt den obersten Richter Adli Mansur, einen Zivilisten, zum neuen Präsidenten.

Wenn man beide Sachverhalte miteinander vergleicht, was war dann wohl eher ein Militärputsch? Nach der Ereignissen von 2011 wurden die Ägypter von der ganzen demokratischen Welt gelobt, 2013 von den gleichen Leuten kritisiert. Mir erscheint das ein wenig absurd. Mit Sicherheit gibt es einiges, was am Ägyptischen Militär zu kritisieren ist – vor allem, dass es nicht kritisiert werden darf. Aber eines ist auch klar: Ägypten ist nicht Argentinien oder Chile. Die Bedeutung und die Stellung des Militärs in der Gesellschaft ist eine ganz andere, als in anderen Ländern. Ich versuchte das schon einmal in den Blogbeiträgen „Die Macht der Generale“ und „Armee in der Falle“ zu beschreiben.

So lange die große Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Militär steht, haben die demokratischen Kritiker im Grunde auch schlechte Karten. Aber wie schnell sich Mehrheiten ändern können, hat man gerade in Ägypten besichtigen können.

Gruppenbild mit Mumie

Aus gegebenem Anlass gibt es hier an dieser Stelle zur Abwechslung einmal eine Fernsehkritik. Am Donnerstag war Mazen Okasha, der auch in Koulou Tamam, Ägypten? eine durchaus wichtige Rolle spielt, zu Gast bei Maybrit Illner. Der Mitbegründer der ägyptischen Sozialdemokraten und Chef der Fremdenführergewerkschaft am Roten Meer hatte schon drei Tage zuvor bei einem Interview im Morgenmagazin des ZDF daheim in Ägypten für großes Aufsehen gesorgt, als er persönlich von Reisen ans Rote Meer abriet und im übrigen der derzeitigen Regierung jegliche Legitimation absprach.

Ägypten-Talk im ZDF: (v.l.n.r.) Philipp Mißfelder, Peter Scholl-Latour, Maybritt Illner, Hamed Abdel-Samad, Luban Azzam, Mazan Okasha

Ägypten-Talk im ZDF: (v.l.n.r.) Philipp Mißfelder, Peter Scholl-Latour, Maybritt Illner, Hamed Abdel-Samad, Luban Azzam, Mazan Okasha

Was in Ägypten momentan wohl allenfalls als Minderheitenvotum gilt, war bei Maybrit Illner dagegen die Mehrheitsmeinung. Neben Mazen Okasha saßen die Politologin Lubna Azzam, der CDU Politiker Philipp Mißfelder, der Autor und Journalist Hamed Abdel-Samad und der wohl unvermeidliche Peter Scholl-Latour. Einzig Abdel-Samad vertrat offensiv das, was in Ägypten derzeit wohl die Mehrheit des Volkes glaubt. Bei der Anmoderation schien es so, als sei ausgerechnet Philipp „Hüftgelenk“ Mißfelder dem Journalisten noch an die Seite gestellt worden, damit er seine Position nicht so ganz alleine vertreten muss. Doch der ehemalige Vorsitzende der Jungen Union, der seit seiner Forderung, älteren Menschen keine künstlichen Hüfgelenke mehr einzusetzen, als das Paradebeispiel des kaltherzigen Politikers gilt, hatte so gut wie gar nichts Substanzielles zur Diskussion beizutragen – außer vielleicht, dass er persönlich Mohammed Mursi offenbar für ein Brechmittel hält.

Am erstaunlichsten schien dann doch Peter Scholl-Latour, die Edelmumie deutscher Talkshows. Seine Auftritte werden von mal zu mal bizarrer. Ich selbst habe von Scholl-Latour in meiner Jugend viel gelernt. Er hat mir den Vietnamkrieg erklärt und auch das Interesse für die islamische Welt geweckt. Und jener Peter Scholl-Latour hat die Stirn zu behaupten, dass die Moslembrüder nichts mit der Gamaa al Islamiyya oder mit dem Dschihad zu tun haben. War es nicht eben jener Scholl-Latour, der als einer der ersten im Westen erklärte, wer Hassan al Bana, der Begründer der Moslembrüder, war? Und war es nicht die Märtyrer-Logik des Hassan al Bana, die den Weg zum islamistischen Terror ebnete? Und sind es nicht die Moslembrüder, die sich jetzt genau wieder dieser Märtyrer-Rhetorik bedienen? Für einen, wie Hamed Abdel-Samad muss dieser Abend nur sehr schwer erträglich gewesen sein. Immerhin hat es gegen ihn am 5. Juni einen Mordaufruf gegeben – von Anhängern des inzwischen gestürztem Präsidenten Mursi. Der hatte sich nie von dem Mordaufruf distanziert. Dieser Umstand wurde an jenem Abend, an dem es soviel um Freiheit und Demokratie ging, mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht von der Moderatorin Maybrit Illner.

Als sich Scholl-Latour wieder einmal hinter seinem immensen Schatz an Wissen und Anekdoten verschanzte, explodierte Abdel-Samad förmlich und warf dem einstigen Nahost-Korrespondenten vor, mit seinem Denken im Kalten Krieg stecken geblieben zu sein. Das Publikums beklaschte es laut und Scholl-Latours Miene versteinerte in einem Maße, dass es schien, er halte den Nichtvollzug des nämlichen Aufrufes für einen schweren Fehler.

Auch Mazen Okasha ging auf den Mordaufruf nicht ein. Er musste sich aber von Abdel-Samad fragen lassen, warum er vor dem 30. Juni auf seinere Facebook-Seite Werbung für Tamarod gemacht, nach dem Machtwechsel aber das Militär verteufelt habe. Der bestritt das vehement, doch Abdel-Samad behauptete, er habe die fraglichen Einträge inzwischen gelöscht (Ich kann es leider nicht beurteilen, weil die Postings von Mazen Okasha weitgehend arabisch sind.).

Die Einspieler waren nun auch nicht gerade von großer Ausgewogenheit getragen. Mir erschien das Ganze dann doch ein wenig nach dem politischem Mainstream ausgerichtet, der da lautet: Ja, es war ein Militärputsch, aber ihr müsst alle miteinander reden. Die Antwort auf die eine und entscheidende Frage blieben Scholl-Latour, Azzam und Okasha schuldig: »Mit wem soll man denn reden, wenn sich der andere dem Gespräch konsequent verweigert?«

Was hat uns der Abend gelehrt? Vielleicht, dass Peter Scholl-Latour mittlerweile in Talk-Shows etwa den Peinlichkeitsgrad erreicht hat, wie Udo Lattek im Fußball-Talk »Doppelpass«, den man vor zwei Jahren fast operativ aus der sonntäglichen Runde entfernen musste?

Viele Freunde und Bekannte in Ägypten fragen sich, ob sich der leidenschaftliche Demokrat Mazen Okasha, der sich um die politische Bildung vor allem am Roten Meer wirklich verdient gemacht hat, inzwischen ein Moslembruder geworden ist. Ich glaube das nicht. Zwar teile ich seine Meinung nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie sie sich entwickelt hat. Wenn jemand soviel Zeit und Passion in den Aufbau der Demokratie steckt, wie er, dann sieht er möglicherweise einen Teil seines Lebenswerks zerstört, wenn demokratische Strukturen zerbrechen. Für ihn persönlich ist das alles sicherlich ein großes Drama. Zudem wird er nach seiner Rückkehr mit Repressionen rechnen müssen – was natürlich zutiefst undemokratisch wäre. Da gilt einfach Rosa Luxemburgs Satz, dass die Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sein muss.

Tja – könnte man nun sagen – muss das nicht auch für Muslembrüder gelten? Auf jeden Fall. Das Problem ist eben nur, dass die MBs jeden, der anders denkt, mit dem Tode bedrohen. Das haben sie sogar getan, als Mursi noch an der Macht war.

Den für mich wichtigsten und bedeutsamsten Satz dieses Abends sprach Hamed Abdel-Samad, auf Mybrit Liiners Frage, was denn nun mit der Demokratie in Ägypten werde. Da sagte er: »Demokratie ist eine Bestimmung, keine Option.« Recht hat er.

Die Macht der Generale

Die Frage kommt, aber leider viel zu selten. Manchmal fragen mich Leute: „Woher kommt eigentlich die große wirtschaftliche Macht der Militärs in Ägypten?“ Komisch eigentlich. Man kann sich ja durchaus mal die Frage stellen, warum sich eine riesige Armee nicht auf ihre Kernkompetenz beschränkt und einfach Armee ist. Im Gegenteil: gerade ihre Kernkompetenz scheint ja völlige Nebensache zu sein. Gerade die, die am lautesten beklagen, dass die Armee nun wieder die Strippen zieht, haben sich offenbar mit dieser Grundfrage noch nie beschäftigt. Dabei könnte sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sein.

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

Die Ursprünge für diese wirtschaftliche Machtfülle dürften bei Gamal Abdel Nasser liegen. Mit der Gruppe der „Freien Offiziere“ putschte er 1952 König Faruk von der Macht, die er zwei Jahre später entgültig an sich riss. Nasser hatte eine ganz klare Leitlinie, und die hieß Unabhängigkeit. Nach der Quasikolonialzeit unter den Briten suchte Nasser für Ägypten die bedingungslose Unabhängigkeit, nicht nur staatlich, sondern auch diplomatisch und vor allem wirtschaftlich. Mit dem Regierungschefs von Indien und Jugoslawien, Nehru und Tito gründete er die „Blockfreien Staaten“. Die wollten im kalten Krieg weder von den Amerikanern noch den Sowjets abhängig sein.

Wenn man allerdings über eine rückständige Industrie, wie Ägypten verfügt, ist es relativ schwierig wirklich wirtschaftlich unabhängig zu sein. Trotzdem forderte Nasser von seinem Land die völlig Autarkie: „Von der Nähnadel bis zur Atomrakete“ müsse alles im Land selbst hergestellt werden. So wird die Sache schnell klar: Wenn Autarkie Staatsziel wird, dann muss im Zweifel auch die Armee ran, um dieses Staatsziel zu erreichen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass Nasser seine Ziele jetzt nicht unbedingt zu hunderprozent umsetzen konnte. Um ehrlich zu sein, ist er mit seinen Projekten, abgesehen vom Nasserstaudamm ziemlich kläglich gescheitert. Am Ende landete er in sowjetischer Abhängigkeit und was von der ägyptischen Autoindustrie übrig geblieben ist, ließ sich vor ein paar Jahren noch beim Minibusfahren in Hurghada besichtigen. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht – ja nach dem – mit Entsetzen oder Erheiterung an die Eltramco Busse. Was blieb, war ein immer weiter wachsendes Wirtschaftsimperium des Militärs. Nur warum wuchs es nur? Ganz einfach: Es dient bis zum heutigen Tag der wirtschaftlichen Absicherung ausgeschiedener Militärs.

Jeder, der verlangt, dass die Militärs ihrer wirtschaftlichen Macht entsagen, muss zwangsläufig auch eine Antwort darauf finden, wie er die daraus folgenden schweren sozialen Verwerfungen verhindern will. Es geht ja nicht nur darum, dass ein paar Generale in den Ruhestand versetzt werden.

Genau so wenig, wie der Westen eine Antwort darauf hatte, was die Alternative zur Räumung der MB-Lager in Kairo gewesen wäre, hat er natürlich eine darauf, was mit dem, zum Teil ja maroden, Wirtschaftsimperium der Generale werden soll. Gerade wir in Deutschland haben ja erlebt, was es heißt, eine marode Industrie zu übernehmen. Nun sind die sozialen Grundlagen in Ägypten deutlich schwächer, als sie in der DDR 1990 waren.

Dass sich der Westen auf recht unsachliche Weise mit den derzeitigen Umständen in Ägypten auseinandersetzt, führt zu der paradoxen Situation, dass die Macht des Militärs nicht gemindert, sondern gestärkt wird. Mit jedem kritischen Wort aus dem Ausland wächst die Sympathie für Abdel Fatah al Sissi. Interessanter ist aber ein anderes Phänomen: Die ägyptische Jugend entdeckt gerade ein neues Idol, so hört man: Gamal Abdel Nasser. Ob das dem Westen gefällt lassen wir mal dahingestellt. Aber er hat sicher selbst dazu beigetragen.

Meiner ist größer

Vor Jahren stand ich einmal fasziniert vor einem Fernseher in Ägypten und verfolgte eine arabische Soap. Ich verstand fast kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Große Gesten, laute Worte und rollende Augen taten das ihre. Es hatte schon etwas von einem lärmenden Stummfilm. In genau so etwas fühle ich mich derzeit hineinversetzt, wenn ich sehe, was in Kairo abläuft. Aber Ägypten besteht ja nicht nur aus Kairo und Alexandria.

Als ich nun in der ersten Juli-Hälfte eine Woche in Ägypten war, habe ich da unten um Marsa Alam herum von der aktuellen Situation sehr wenig mitbekommen. Aber das wenige hat mich schon nachdenklich gemacht. Da war zum Beispiel das Gespräch mit einem ägyptischen Tauchlehrer, der alles andere als ein Anhänger der Moslembrüder ist. Und er zeigte sich einfach nur traurig darüber, dass das Experiment mit dem ersten frei gewählten Präsidenten des Landes so endet. Mit dieser Meinung steht er nicht allein. Für viele überzeugte Demokraten ist der Sturz Mursis eine Bankrotterklärung der ägyptischen Demokratie. Ich selbst teile diese Einstellung nicht. Natürlich nicht, denn ich glaube, dass sich das ägyptische Volk im richtigen Moment gewehrt hat, so wie sich vielleicht das deutsche Volk spätestens im April 1933 gegen Hitler hätte wehren müssen, nachdem offenbar wurde, was das Ermächtigungsgesetz bedeutet. Auch auf die Gefahr hin, dass man nun mault und behauptet: „Jetzt packt der auch noch die Nazikeule aus“, bleibe ich dabei: Die Rechte, die sich Mursi aneignen wollte, beinhalteten genau das, was die Nazis mit den Ermächtigungsgesetzen durchgepeitscht hatten – und dass die Moslembrüder inzwischen für eine wahre Pogromstimmung gesorgt hatten, will ja wohl auch niemand ernsthaft bestreiten. Trotzdem verstehe ich, dass jemand, der zum ersten Mal die Demokratie wirklich geschmeckt und gefühlt hat, betrübt darüber sein kann, dass der gewählte Präsident von Militärs entmachtet wird. Ich denke auch, dass man diese Bedrückung auch ernst nehmen sollte.

ALLGEGENWÄRTIG: Überall flattern derzeit Ägyptische Fahnen, wie hier in Marsa Shagra.

Allgegenwärtig: Überall flattern derzeit ägyptische Fahnen, wie hier in Marsa Shagra.

Eine andere Erfahrung hat mich dagegen sehr stutzig gemacht. Am 14. Juli fuhr ich von Marsa Shagra zurück nach Hurgahda. An keiner einzigen Tankstelle habe ich eine Warteschlange gesehen. Ich glaube nun nicht, dass dieses Phänomen mit dem Ramadan zusammenhängt. Vielmehr erinnerte es mich an die Erzählungen meiner Eltern von der Währungsreform 1948. Seit Kriegsende waren die Schaufenster leer gewesen. Doch mit der Einführung der D-Mark füllten sie sich über Nacht. Diesel und Benzin waren also wohl die ganze Zeit da. Nur, wo war das Zeug versteckt?

Und? Hat es Abdel Fatah al Sissi bislang gut gemacht? Dass er bis auf die Moslembürder alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in ein Boot gebracht hat, ist schon nahezu sensationell. Dass Saudi Arabien fünf Milliarden Euro rübergeschoben hat und die Salafisten unmittelbar danach wieder ganz friedlich waren, wird wohl auch irgendwie zusammenhängen. Die Saudis haben ihr Projekt „Gottesstaat Ägypten“ (so sie es je hatten) erstmal hintangestellt. Ein Bürgerkrieg in der Region reicht ihnen – zu recht. Vielleicht sind sie ja von Sissi überzeugt worden.

Aber das, was er in dieser Woche veranstaltet hat, besitzt bestenfalls Comic-Niveau. Der Aufruf an die Ägypter, jetzt auf die Straße zu gehen, um dadurch ein hartes Durchgreifen gegen die Moslembrüder zu legitimieren, ist ja schon ziemlich krass. Vor allem zeigt er damit völlig unnötig Schwäche. Im Prinzip ist es doch ganz einfach: Entweder die Moslembrüder haben gegen die bestehenden Gesetze verstoßen und tun das weiterhin, dann soll man sie einfach festnehmen und gegebenenfalls verurteilen. Wenn sie aber nicht gegen die bestehenden Gesetze verstoßen, dann ist ein gewaltsames Vorgehen ein Unrecht – egal wieviele Demonstranten al Sissi mobilisieren kann.

Ich persönlich glaube ja, dass Sissi mit dem Demonstrationsaufruf in erster Linie mal den Moslembrüdern zeigen wollte, um wieviel mehr Menschen er mobilisieren kann, als die Brüder. Es hat so etwas von spielenden Jungs. „Aber meiner ist größer, ätsch“. Leider ist der Einsatz für solch pupertäre Spielchen ziemlich blutig.

Vielleicht ist es aber auch eine Panikreaktion. Von vielen unbemerkt ist die Situation auf dem Sinai inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass die Moslembrüder schon seit geraumer Zeit dort richtig mitmischen – und dass die längst totgesagte Gamma al Islamiyya dort wieder fröhliche gewalttätige Urstände feiert – zusammen mit Dschihad und Hamas – und Al Kaida. Ihr Hauptangriffsziel ist seit Wochen und Monaten das ägyptische Militär.

Wenn sich das bestätigt – und wenn sich vor allem bestätigt, dass Mursi davon gewusst hat – dann wird es für ihn sehr eng, vor allem um seinen Hals rum. Es geht dann um etliche tote ägyptische Soldaten. 14 von ihnen sind ziemlich genau vor einem Jahr bei einem Anschlag auf eine Grenzstation ums Leben gekommen. Mursi nutzte sie Gunst der Stunde, um sich des Chefs des Obersten Militärrats SCAF, Feldmarschall Mohammed Tantawi, zu entledigen. Inzwischen hat es immer wieder Anschläge auf Militäreinrichtungen gegeben. Sollte jetzt noch herauskommen, dass Mursi davon gewusst hat, dann wäre der Hochverratsprozess mit feststehendem Ausgang unumgänglich. Und das ist die eigentliche Pointe des Tages: Der Staatsanwalt hat heute U-Haft für Mursi für die nächsten zwei Wochen angeordnet. Es soll untersucht werden, inwieweit die Hamas bei Mursis Befreiung aus dem Gefängnis beteiligt war. Der Weg von Gaza in den Sinai ist ja nun wirklich nicht weit – auch gedanklich. Mich würde es nicht wundern, wenn bei dieser Untersuchung noch ganz andere Dinge herauskommen würden.