Natürlich wird er es machen

Allmählich wird es ein wenig ermüdend. Natürlich wird der frischgebackene Feldmarschall und Verteidigungsminister Abdel Fatah al Sisi für das Amt des Präsidenten kandidieren. Dass er sich bitten lässt, bitten lassen musste, ist in Anbetracht der Tatsache, dass der Sturz Mursis in vielen Teilen der Welt als Militärputsch gewertet wird, ja wohl klar. Jetzt ist es scheinbar soweit. Er hat in einem Interview seine Kandidatur offiziell angekündigt – und schon wieder rudert irgendein Militär zurück und behauptet, es sei alles gar nicht so gemeint.

Was dieser Eiertanz noch soll, ist schwer – nein, eigentlich gar nicht zu begreifen. Die Schamfrist ist lange vorbei. Der größere Teil der gesellschaftlich relevanten Gruppen hat seinen Segen längst gegeben, und die Mehrheit vor allem der jüngeren Ägypter scheint ihn als Präsidenten unbedingt haben zu wollen. Interessanterweise sind sie es, die neben blumenbekränzten Bildern von Sisi auch große Porträts von Gamal Abdel Nasser vor sich her tragen. Genau das sollte eigentlich zu denken geben.

Wähernd wir im Westen gerne darüber schwadronieren, wieviel Einfluss das Militär hat, und ob nun die Zeiten von Mubarak zurückkommen, sehnen sich vor allem diejenigen Ägypter nach Gamal Abdel Nasser zurück, die ihn selbst nie erlebt haben. Wahrscheinlich wäre es lohnender, sich genau darüber Gedanken zu machen. Möglicherweise ist eine Nasser-Renaissance viel, viel heikler als die Frage, wie stark das Militär auf die Politik Einfluss nimmt.

Abdel Hakim Amr, ägyptischer Armeechef…

Zunächst einmal sollte man sich fragen, warum Nasser wieder oder noch so verehrt wird. Wer sich einmal ein altes Video anschaut und ihn reden hört, wird sich wundern. Da erschallt keine kraftvolle tiefe Stimme wie ein Donnergrollen, sondern eine ganz hohe, sehr einschmeichelnde Stimme, freundlich, fast scheu. Diese sanfte Stimme verkündet dann mal kurz, dass Israel von der Landkarte vertilgt werden muss und alle Juden ins Meer getrieben würden. Irgendwie gespenstisch.

…und Präsident Gamal Abdel Nasser beim gemeinsamen Strandurlaub.
Quelle: Bibliotheca Alexandrina

Niemand hat in der Geschichte der ägyptischen Republik mehr Menschen verfolgt, foltern und hinrichten lassen. Er war es, der in der Republik als erster den Bann über die Moslembrüder aussprach und ihre Führer hängen ließ. In seinen wenigen Jahren als Präsident führte er zwei Kriege, die er beide mehr oder weniger krachend verlor. Seine panarabische Politik scheiterte kläglich. Die Vereinigte Arabische Republik aus Ägypten und Syrien bestand nur vier Jahre, dann putschten ihn die Syrer weg. Nicht weniger katastrophal endete sein Versuch mit dem arabischen Sozialismus, der  »von der Nähnadel bis zur Atomrakete« alles selbst produzieren sollte. Als er mit zehn Panzerdivisionen und 100.000 Mann an der israelischen Grenze stand und verkündete, er werde den Judenstaat jetzt dem Erdboden gleich machen, war er doch sehr verblüfft, dass diese böden Juden ihm zuvor kamen und ihm innerhalb von 45 Minuten seine ganze Luftwaffe kaputt machten. Fünf Tage später endete der Krieg. Nasser zwang seinen alten Kumpel und Verteidigungsminister Abdel Hakim Amr zum Selbstmord. Dann kündigte Nasser seinen eigenen Rücktritt an. Innerhalb weniger Stunden stand rund vier Millionen Ägypter vor seiner Haustür und beschworen ihn, im Amt zu bleiben. Das kommt einem jetzt irgendwie vertraut vor, oder?

Objektiv waren die Zustände unter Sadat und Mubarak in Ägypten besser als unter Nasser. Den einen haben sie umgebracht, den anderen fortgejagt – und Sisi soll nun Nasser 2.0 werden. Für Ägypten und den Rest der Welt bleibt zu hoffen, dass er das nicht wird.

Zeitzeugen sollen nicht so überzeugt von Nassers Intelligenz gewesen sein. Dagegen halten viele Beobachter Sisi für durchaus intelligent, für intelligent genug, zu ahnen, was da gerade in Ägypten abläuft. Sein möglicher Vorgänger Nasser gilt vielen im ägyptischen Volk heute als Projektionsfläche für ein großes, national bedeutendes und mächtiges Ägypten. Und jedes Plakat von Nasser macht dem potentiellen Präsidentschaftskandidaten klar, was so mancher von ihm erwartet. Von Schulen, Krankenhäusern oder einer funtionierenden Energieversorgung ist da wenig die Rede. Das könnte ihn als künftigen Präsidenten sehr nachdenklich machen.

Manch einer hat mir in den letzten Wochen gesagt: »Der Sisi macht das nie, da wäre er schön blöd, sich das ans Bein zu hängen.« Wenn er das tatsächlich weiß, dann verdient seine Kandidatur am Ende Respekt.

Die Macht der Generale

Die Frage kommt, aber leider viel zu selten. Manchmal fragen mich Leute: „Woher kommt eigentlich die große wirtschaftliche Macht der Militärs in Ägypten?“ Komisch eigentlich. Man kann sich ja durchaus mal die Frage stellen, warum sich eine riesige Armee nicht auf ihre Kernkompetenz beschränkt und einfach Armee ist. Im Gegenteil: gerade ihre Kernkompetenz scheint ja völlige Nebensache zu sein. Gerade die, die am lautesten beklagen, dass die Armee nun wieder die Strippen zieht, haben sich offenbar mit dieser Grundfrage noch nie beschäftigt. Dabei könnte sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sein.

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

Die Ursprünge für diese wirtschaftliche Machtfülle dürften bei Gamal Abdel Nasser liegen. Mit der Gruppe der „Freien Offiziere“ putschte er 1952 König Faruk von der Macht, die er zwei Jahre später entgültig an sich riss. Nasser hatte eine ganz klare Leitlinie, und die hieß Unabhängigkeit. Nach der Quasikolonialzeit unter den Briten suchte Nasser für Ägypten die bedingungslose Unabhängigkeit, nicht nur staatlich, sondern auch diplomatisch und vor allem wirtschaftlich. Mit dem Regierungschefs von Indien und Jugoslawien, Nehru und Tito gründete er die „Blockfreien Staaten“. Die wollten im kalten Krieg weder von den Amerikanern noch den Sowjets abhängig sein.

Wenn man allerdings über eine rückständige Industrie, wie Ägypten verfügt, ist es relativ schwierig wirklich wirtschaftlich unabhängig zu sein. Trotzdem forderte Nasser von seinem Land die völlig Autarkie: „Von der Nähnadel bis zur Atomrakete“ müsse alles im Land selbst hergestellt werden. So wird die Sache schnell klar: Wenn Autarkie Staatsziel wird, dann muss im Zweifel auch die Armee ran, um dieses Staatsziel zu erreichen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass Nasser seine Ziele jetzt nicht unbedingt zu hunderprozent umsetzen konnte. Um ehrlich zu sein, ist er mit seinen Projekten, abgesehen vom Nasserstaudamm ziemlich kläglich gescheitert. Am Ende landete er in sowjetischer Abhängigkeit und was von der ägyptischen Autoindustrie übrig geblieben ist, ließ sich vor ein paar Jahren noch beim Minibusfahren in Hurghada besichtigen. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht – ja nach dem – mit Entsetzen oder Erheiterung an die Eltramco Busse. Was blieb, war ein immer weiter wachsendes Wirtschaftsimperium des Militärs. Nur warum wuchs es nur? Ganz einfach: Es dient bis zum heutigen Tag der wirtschaftlichen Absicherung ausgeschiedener Militärs.

Jeder, der verlangt, dass die Militärs ihrer wirtschaftlichen Macht entsagen, muss zwangsläufig auch eine Antwort darauf finden, wie er die daraus folgenden schweren sozialen Verwerfungen verhindern will. Es geht ja nicht nur darum, dass ein paar Generale in den Ruhestand versetzt werden.

Genau so wenig, wie der Westen eine Antwort darauf hatte, was die Alternative zur Räumung der MB-Lager in Kairo gewesen wäre, hat er natürlich eine darauf, was mit dem, zum Teil ja maroden, Wirtschaftsimperium der Generale werden soll. Gerade wir in Deutschland haben ja erlebt, was es heißt, eine marode Industrie zu übernehmen. Nun sind die sozialen Grundlagen in Ägypten deutlich schwächer, als sie in der DDR 1990 waren.

Dass sich der Westen auf recht unsachliche Weise mit den derzeitigen Umständen in Ägypten auseinandersetzt, führt zu der paradoxen Situation, dass die Macht des Militärs nicht gemindert, sondern gestärkt wird. Mit jedem kritischen Wort aus dem Ausland wächst die Sympathie für Abdel Fatah al Sissi. Interessanter ist aber ein anderes Phänomen: Die ägyptische Jugend entdeckt gerade ein neues Idol, so hört man: Gamal Abdel Nasser. Ob das dem Westen gefällt lassen wir mal dahingestellt. Aber er hat sicher selbst dazu beigetragen.

Ägypten und Griechenland

Es war eine kleine, aber feine Lesung gestern Abend im K-Salon in der Kreuzberger Bergmannstraße. Interessanterweise kam die die Diskussion dann auch irgendwann auf Griechenland, aber nicht etwa wegen der Euro-Krise oder dem bevorstehenden Halbfinale gegen Deutschland. Es ging um das Verhältnis zwischen Ägypten und Griechenland, das seit der Antike ein traditionell gutes ist. Herodot hat gleich zwei seiner Weltwunder in Ägypten angesiedelt. Der Handel zwischen Alexandria und Piräus war stets sehr lebendig. Griechische und ägyptische Kultur standen in regem Austausch. Die zweitgrößte ägyptische Stadt ist eine Gründung Alexander des Großen.

Für viele Griechen wurde Ägypten auch zu einer zweiten Heimat. Bis vor sechzig Jahren war ein großer Teil der Gastronomie und Hotelerie fest in griechischer Hand. Kellner waren fast ausnahmslos Griechen und wurden in Restaurants traditionell herbeigeklatscht, so dass in Ägypten ein Sprichwort entstand: „Klatsch in die Hand, und ein Grieche kommt gerannt.“ In jener Zeit lebten rund 300.000 Griechen in Ägypten.

Das änderte sich mit der Revolution von 1952 und der späteren Machtübernahme von Gamal Abdel Nasser. Im Zuge der Verstaatlichung verloren viele griechischen Hoteliers ihre Häuser und am Ende flogen die 300.000 Griechen aus dem Land. Trotzdem gibt es bis heute eine starke gegenseitige Affinität.

Wer mir bis hierher gefolgt ist, mag sich vielleicht fragen, was diese Lobpreisung der ägyptisch-griechischen Beziehungen soll. Doch gerade in diesen Tagen kann das eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wenn wir die Uhr um etwa ein Jahr zurückdrehen und uns daran erinnern, was im libyschen Bürgerkrieg passierte, wird es schnell klar. Tausende Flüchtlinge versuchten übers Mittelmeer nach Italien zu kommen. Schon da tauchte die Frage auf, ob Europa denn die vielen(!) Flüchtlingen aufnehmen könne. Die italienische Regierung wollte sie über ganz Euorpa verteilen, das Schengen-Abkommen war plötzlich in Gefahr.

Dass die Situation in Ägypten in diesen Tagen sehr ernst ist, wird niemand bestreiten. Es wird wohl kaum zu einem Bürgerkrieg wie in Libyen kommen, aber die ägyptische Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Es ist also gar nicht so ausgeschlossen, dass sich irgendwann auch von Ägypten aus Flüchtlinge in Richtung Europa aufmachen. Aus historischen, kulturellen und geografischen Gründen wird ihr erstes Ziel ausgerechnet Griechenland sein – so wie es vor einem Jahr Italien für flüchtende Libyer war.

So! Und nun verdeutlichen wir uns einmal die Größenordnungen: Libyen hat 6,5 Millionen Einwohner, Italien zehn mal so viel. Italien ist zwar auch nicht das gesündeste Land Europas, aber Italien geht es verglichen mit Griechenland immer noch relativ gut.  Aber der heftigste Vergleich: Es gibt 10 Millionen Griechen, aber 85 Millionen Ägypter. Aus Lybien sind im vergangenen Jahr einige Zig-Tausend Menschen geflohen. Wieviele würden im schlimmsten Fall aus Ägypten fliehen? Sollte Ägypten tatsächlich zusammenkrachen, dann, so fürchte ich, können sich die europäischen Politiker jede Konferenz über irgendwelche Rettungsschirme für Griechenland einfach mal sparen.

Das ist vielleicht ein sehr pessimistische Szenario. Ich hoffe natürlich auch, dass es nicht so schlimm kommt. Aber es zeigt doch eines ganz deutlich. Über all die Diskussionen über Euro-Rettung und Griechenlandhilfe sollte man eines nicht vergessen: Wenn Ägypten in dieser Phase vollends ins Chaos stürzt, dann kann das á la longe die Europäer und den Rest der Welt viel teurer zu stehen kommen, als jeder Rettungsfond.

Sie wollen nur spielen

Ultras gibt es nicht nur in der deutschen Bundesliga, sondern auch in der ersten Ägyptischen Liga.

So also sieht Revolution aus. Wer nie eine mit erlebt hat, geht davon aus, dass sich 24 Stunden am Tag kreischende Menschenmassen durch die Straßen bewegen, mit Transparenten fuchteln, Mollis werfen, Barrikaden bauen und manchmal einen König köpfen. Ich für meine Person erlebe zum ersten Mal eine Revolution mit. Nun muss ich feststellen, dass ich so manchem Irrtum unterlegen bin. So ging ich fälschlicherweise davon aus, dass es in Ägypten zwei Revolutionen gab, die im Januar und Februar und dann noch eine im November und Dezember. So wurde es auch etwa von den deutschen Medien dargestellt. Das ist falsch. Die Revolution vom Januar hat nie aufgehört. Ich dachte auch, dass ich in Hurghada einigermaßen weitab vom Schuss sei. Auch das hat nicht gestimmt. Revolution sieht nämlich ganz anders aus. Wer tagsüber am Strand liegt oder mit dem Boot hinaus zu den Inseln fährt, der bekommt in der Tat nicht besonders viel mit. Doch wer mit offenen Augen und Ohren durch die Stadt geht, spürt den Unterschied. Die Aggressivität unter den Ägypter ist viel größer geworden. Jahrelang hatten Polizei und Militär den Daumen drauf. Die Polizei war verhasst, das Militär beliebt. Vor beiden Uniformen hatte man aber einen Mordsrespekt. Das ist vorbei. Andererseits ist die Polizei, die früher sehr willkürlich agiert hat, nun nahezu überkorrekt, was sich darin zeigt, dass nun überall und immer alles mögliche kontrolliert wird – was die Touristen allerdings kaum tangiert.

Im Zweifelsfall macht jeder Ägypter an jeder Straßenecke seinen eigenen Tahir-Platz auf. Beim Fußballspiel in El Gouna erlebte ich ein ziemlich bizarres Beispiel. Der Block mit den vielleicht 100 Fans von El Masri war schwer von Polizei bewacht. Kurz vor Ende stürmten die El-Masri-Ultras (so nennen die sich wirklich) den Nachbarblock. Nur – der war leer. Der nächste El Gouna-Fan befand ich auf der Gegenseite. Die Sicherheitskräfte kamen gerannt, es wurde gebrüllt und dann marschierten die Fans wieder zurück in ihren Block und fanden es lustig, dass die armen Teufel in Uniform und Schild und Helm so richtig rennen mussten. Ein paar Minuten später fingen El-Gouna-Anhänger an, sich untereinander zu prügeln. Dann gab es Elfmeter für El Gouna und die Prügelei war schlagartig vorbei. Seit der Revolution sei die Zahl der Spielabbrüche in der ersten ägyptischen Liga sprunghaft gestiegen, erzählte mir Samih Sawiris.

Seit inzwischen vier Tagen warte ich auf einen Interviewpartner, der aus Mansura im Norden Ägyptens nach Hurghada kommen soll. Leider kam er nicht aus der Stadt heraus, weil Demonstranten die Ausfallstraßen blockierten. Sie sind vom Wahlausgang in ihrer Stadt enttäuscht. Selbst, wenn er gestern hätte fahren können: Bis nach Hurghada wäre er nicht gekommen. Bei Ras Gharib war die Küstenstraße ebenfalls zu. Dort gab es eine große Demo gegen die Ölindustrie am Ort. Dort saßen dann einige Busse voller Touristen fest, die von Kairo nach Hurghada wollten.

Dass das Internet seit Tagen nur bruchstückhaft funktioniert, ist wohl auch eine Folge der Revolution. So etwas kann zwar in Ägypten immer wieder passieren – aber nicht tagelang. Es kümmert sich eben keiner richtig darum.

Revolution bringt immer ein Stück Anarchie mit sich. So gesehen läuft es hier ja noch prächtig. Aber wer sie besichtigen will, der kann die Anarchie in Ägypten in bestimmten Bereichen erleben. Es ist nun allerdings nicht so, dass hier das gesamte öffentliche Leben mit einem großen Seufzer in sich zusammenbricht. Das meiste läuft wie eh und je, aber nicht immer so glatt, wie in den vergangen Jahren (in denen es natürlich auch in regelmäßigen Abständen gewisse Aussetzer gegeben hat).

Ob ich Angst habe? Nee, zu Touristen sind die Ägypter nach wie vor nett. Als mich gestern ein Taxifahrer beschummeln wollte und ich mich lautstark zu Wehr setzte, standen sofort vier da, um mir zu helfen. Auch das ist Ägypten. Die Revolution ist nicht nur der Tahir. Es ist spannend zu erleben, wie sie sich im Alltag auswirkt. Manchmal scheint es so, als ob die Ägypter daran sogar richtig Spaß haben. Aber sie wollen dann nur spielen – so meint es mancher Europäer wenigstens. Ein bisschen ist da ja auch was dran. 30 Jahre lang war die Meinungsfreiheit in Ägypten – die auch unter Sadat nicht grenzenlos war – sehr eingeschränkt. Nun macht jeder, egal ob er für oder gegen Mubarak war, ausgiebig von dem Gebrauch, was er Meinungsfreiheit nennt. Dann wird es auch mal laut, oder es fliegen die Fäuste. Es ist nichts anderes, als der berühmte Dampf, der aus dem Kessel raus muss. Für den Reisenden ist es faszinierend, für die Menschen die hier leben – soweit sie Ausländer sind – lästig bis beängstigend. Aber ich glaube, es sind Begleiterscheinungen einer jeden Revolution. Sie werden in dem Moment verschwinden, in dem es wieder eine handlungsfähige, stabile Regierung gibt – egal welcher Couleur. Außerdem: wir in Europa fanden die Arabellion doch alle ganz toll – schon vergessen?

Die Dividende der Revolution

Vor vielen Jahren erklärte mir ein ägyptischer Unternehmer: „Nirgendwo auf dieser Welt gibt es so viele Generäle wie in Ägypten.“ Ich war schon einigermaßen verblüfft. Doch er verdeutlichte es mir ziemlich einfach: „Jeder Soldat, der entlassen wird, rechnet im Zivilleben anschließend nach, welchen Rang er erreicht hätte, wenn er jetzt noch beim Militär wäre. Irgendwann mal sind dann alle Generäle.“

Inzwischen hat sich das wohl ein wenig geändert. Tatsache ist aber, dass das Militär bis vor einem Jahr sehr beliebt war, obwohl es seit fast 60 Jahren einen Staat im Staat darstellt. Das dürfte daran liegen, dass es die „Gruppe der freien Offiziere“ war, die 1952 den korrupten Könik Faruk zum Teufel jagte. Auch das war damals eine Revolution. Eine der wichtigen Errungenschaften dieser Revolution war das Frauenwahlrecht. (In diesem Zusammenhang drängt sich mir eine ganz aktuelle Frage auf: Jehan al-Sadat schreibt in ihrer Autobiographie „Ich bin eine Frau aus Ägypten“, dass es 1976 in Ägypten für die Männer Wahlpflicht und für Frauen das Wahlrecht gab. Wie sieht das 2011 aus?)

Tatsächlich gehörten Frauen zu den großen Gewinnerinnen der Revolution von 1952. Da mutet es schon sehr bedrückend an, dass es in diesen Tagen ausgerechnet Frauen sind, die sich vom ägyptischen Militär über den Tahrir jagen lassen müssen, die verprügelt und denen die Kleider vom Leib gerissen werden. Auf der anderen Seite fällt auf, dass offenbar ein machtvolles Wort der US-Außenministerin(!) genügt, und die Generäle knicken ein. Damit will ich natürlich nicht den Marsch der Frauen am Dienstagabend unterbewerten. Aber die lautstarke Solidarisierung von Hillary Clinton wird schon ihren Teil zu der überraschenden Entschuldigung des Militärrats beigetragen haben.

Trotzdem, es gibt in Ägypten durchaus auch Leute, die dieses Horrorbild von der verprügelten Demonstrantin ganz anders bewerten, als der Rest der Welt. Eine brave, fromme Ägypterin würde niemals einen blauen BH tragen, und deshalb könne diese Frau nur eine Prostituierte sein. Hm, als ich das gehört habe, fiel mir ein, dass angeblich Frauen schwerreicher Saudis regelmäßig tief verschleiert Pariser Dessous-Geschäfte leer kaufen. Das Geld, das dann noch übrig bleibt, spenden ihre Männer dann vermutlich an die ägyptischen Salafisten.

Doch ernsthaft: Es waren vor einem Jahr auch unzählige Frauen, die auf dem Tahrir dafür sorgten, dass das Mubarak-Regime gestürzt wurde. Ausgerechnet sie sollen nach der Revolution weniger Rechte haben, als zuvor? Sogar die Frauenquote, noch von Mubarak eingeführt, auf den Kandidatenlisten zur Wahl ist schon gekippt worden. Aus europäischer Sicht verläuft die Bruchlinie im Ägypten nach der Revolution zwischen Säkularen und Islamisten. Vielleicht verläuft sie seit gestern auch zwischen Männern und Frauen.