Natürlich wird er es machen

Allmählich wird es ein wenig ermüdend. Natürlich wird der frischgebackene Feldmarschall und Verteidigungsminister Abdel Fatah al Sisi für das Amt des Präsidenten kandidieren. Dass er sich bitten lässt, bitten lassen musste, ist in Anbetracht der Tatsache, dass der Sturz Mursis in vielen Teilen der Welt als Militärputsch gewertet wird, ja wohl klar. Jetzt ist es scheinbar soweit. Er hat in einem Interview seine Kandidatur offiziell angekündigt – und schon wieder rudert irgendein Militär zurück und behauptet, es sei alles gar nicht so gemeint.

Was dieser Eiertanz noch soll, ist schwer – nein, eigentlich gar nicht zu begreifen. Die Schamfrist ist lange vorbei. Der größere Teil der gesellschaftlich relevanten Gruppen hat seinen Segen längst gegeben, und die Mehrheit vor allem der jüngeren Ägypter scheint ihn als Präsidenten unbedingt haben zu wollen. Interessanterweise sind sie es, die neben blumenbekränzten Bildern von Sisi auch große Porträts von Gamal Abdel Nasser vor sich her tragen. Genau das sollte eigentlich zu denken geben.

Wähernd wir im Westen gerne darüber schwadronieren, wieviel Einfluss das Militär hat, und ob nun die Zeiten von Mubarak zurückkommen, sehnen sich vor allem diejenigen Ägypter nach Gamal Abdel Nasser zurück, die ihn selbst nie erlebt haben. Wahrscheinlich wäre es lohnender, sich genau darüber Gedanken zu machen. Möglicherweise ist eine Nasser-Renaissance viel, viel heikler als die Frage, wie stark das Militär auf die Politik Einfluss nimmt.

Abdel Hakim Amr, ägyptischer Armeechef…

Zunächst einmal sollte man sich fragen, warum Nasser wieder oder noch so verehrt wird. Wer sich einmal ein altes Video anschaut und ihn reden hört, wird sich wundern. Da erschallt keine kraftvolle tiefe Stimme wie ein Donnergrollen, sondern eine ganz hohe, sehr einschmeichelnde Stimme, freundlich, fast scheu. Diese sanfte Stimme verkündet dann mal kurz, dass Israel von der Landkarte vertilgt werden muss und alle Juden ins Meer getrieben würden. Irgendwie gespenstisch.

…und Präsident Gamal Abdel Nasser beim gemeinsamen Strandurlaub.
Quelle: Bibliotheca Alexandrina

Niemand hat in der Geschichte der ägyptischen Republik mehr Menschen verfolgt, foltern und hinrichten lassen. Er war es, der in der Republik als erster den Bann über die Moslembrüder aussprach und ihre Führer hängen ließ. In seinen wenigen Jahren als Präsident führte er zwei Kriege, die er beide mehr oder weniger krachend verlor. Seine panarabische Politik scheiterte kläglich. Die Vereinigte Arabische Republik aus Ägypten und Syrien bestand nur vier Jahre, dann putschten ihn die Syrer weg. Nicht weniger katastrophal endete sein Versuch mit dem arabischen Sozialismus, der  »von der Nähnadel bis zur Atomrakete« alles selbst produzieren sollte. Als er mit zehn Panzerdivisionen und 100.000 Mann an der israelischen Grenze stand und verkündete, er werde den Judenstaat jetzt dem Erdboden gleich machen, war er doch sehr verblüfft, dass diese böden Juden ihm zuvor kamen und ihm innerhalb von 45 Minuten seine ganze Luftwaffe kaputt machten. Fünf Tage später endete der Krieg. Nasser zwang seinen alten Kumpel und Verteidigungsminister Abdel Hakim Amr zum Selbstmord. Dann kündigte Nasser seinen eigenen Rücktritt an. Innerhalb weniger Stunden stand rund vier Millionen Ägypter vor seiner Haustür und beschworen ihn, im Amt zu bleiben. Das kommt einem jetzt irgendwie vertraut vor, oder?

Objektiv waren die Zustände unter Sadat und Mubarak in Ägypten besser als unter Nasser. Den einen haben sie umgebracht, den anderen fortgejagt – und Sisi soll nun Nasser 2.0 werden. Für Ägypten und den Rest der Welt bleibt zu hoffen, dass er das nicht wird.

Zeitzeugen sollen nicht so überzeugt von Nassers Intelligenz gewesen sein. Dagegen halten viele Beobachter Sisi für durchaus intelligent, für intelligent genug, zu ahnen, was da gerade in Ägypten abläuft. Sein möglicher Vorgänger Nasser gilt vielen im ägyptischen Volk heute als Projektionsfläche für ein großes, national bedeutendes und mächtiges Ägypten. Und jedes Plakat von Nasser macht dem potentiellen Präsidentschaftskandidaten klar, was so mancher von ihm erwartet. Von Schulen, Krankenhäusern oder einer funtionierenden Energieversorgung ist da wenig die Rede. Das könnte ihn als künftigen Präsidenten sehr nachdenklich machen.

Manch einer hat mir in den letzten Wochen gesagt: »Der Sisi macht das nie, da wäre er schön blöd, sich das ans Bein zu hängen.« Wenn er das tatsächlich weiß, dann verdient seine Kandidatur am Ende Respekt.

Teilen – aber wie?

Es ist ja eine traurige Tatsache in Ägypten: Wer an der Macht ist, haut seinem Gegner erst mal so richtig eins über die Rübe. Das war bei den Moslembrüdern so, und das scheint inzwischen bei der herrschenden Regierung auch nicht anders zu sein. Es sind ja nicht nur die Moslembrüder, die Prügel beziehen, sondern auch die, die drei Jahre nach dem Sturz von Hosni Mubarak fürchten, dass das alte Regime in Form einer Militärdiktatur zurückkommt.

Auch die ägyptischen Goldminen gehören zum Wirtschaftsimperium der Armee. Foto: psk

Auch die ägyptischen Goldminen gehören zum Wirtschaftsimperium der Armee. Foto: psk

Genau diesen Satz hört man nun immer öfter. Aber im Grunde ist er unsinnig. Wenn wir das Rad der Geschichte um drei Jahre zurückdrehen, dann stellt sich die Sache doch ganz, ganz anders dar. Mubarak wurde ja nicht deshalb gestürzt, weil man einen blutigen Militärdiktator beseitigen wollte. Es ist ja auch eine schlecht abzuleugnende Tatsache, dass der absolut größte Teil der Ägypter mit den ersten 20 der knapp 30 Regierungsjahre von Mubrak ganz zufrieden waren. Der Aufruhr begann doch erst, als die Familie Mubarak in Gestalt von Frau Suzanna und Sohn Gamal versucht hatte, den Staat zur persönlichen Beute zu machen. Das war dann selbst im Bakschisch-Wunderland Ägypten zu viel des Guten. Und weil das in Tunesien so gut geklappt hatte, machte man kurzerhand eine Revolution und fegte den Alten hinweg.

War das so? Am Ende war es der Oberste Militärrat (SCAF), der Mubarak förmlich auf seinem Stuhl in den Hubschrauber tragen musste. Und der SCAF übernahm dann praktischerweise auch gleich mal die Regierung. Es ist schon ziemlich erstaunlich, dass die Welt vor drei Jahren nicht von einem Militärputsch gesprochen hat. Die Begründung war ja einfach: Das Militär hatte schließlich nur den Willen der Millionen auf dem Tahrirplatz exekutiert (das darf jetzt jeder verstehen, wie er mag).

Komischerweise standen zweieinhalb Jahre später noch viel mehr Millionen auf der Straße. Mursi wurde auch nicht von den Militärs gedrängt, sein Amt aufzugeben. Der Präsident hatte sich aus Angst vor der Armee in eine Kaserne der Republikanischen Garde geflüchtet, die ihn dann einfach nicht mehr raus ließ. Im Gegensatz zum Machtwechsel 2011 hatte das Militär keine Sekunde lang die Macht in Händen. Trotzdem spricht man bei den Ereignissen von Juni und Juli 2013 von einem Militärputsch. Da versteh einer die Welt.

Im Prinzip ist es aber schon richtig. Das Militär bleibt ein Staat im Staat und bestimmt letztlich, wo es in Ägypten langgeht, politisch und wirtschaftlich. Da der glorreichen ägyptischen Armee auch fast die Hälfte des Landes gehört, könnte man ja fast schon von einem Mehrheitsentscheid sprechen. Aber Spaß bei Seite. Tatsächlich gilt diese große Ansammlung vor allem der wirtschaftlichen Macht beim Militär, als eines der größten Probleme des Landes. Und die Lösung klingt ja so einfach. Das Militär soll sich doch bitte von seinen Nudelfabriken, Mineralwasserbrunnen, Tankstellen, Klopapiermanufakturen, Reisebüros, Aluminiumwerken, Keramikbetrieben und all dem anderen Plunder trennen, der 44 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Ist ja auch klar, Nudel- und Klopapierhersteller in Ägypten, die nicht auf unbezahlte Wehrpflichtige als kostenlose Arbeitskräfte zurückgreifen können, haben auf dem Markt von Nudeln und Klopapier einen denkbar schlechten Stand.

Doch nun mal die Gegenfrage: Was würde denn mit Ägypten passieren, wenn morgen früh General Fatah al Sisi erwachen würde und sein erster Gedanke wäre: „Weg mit dem ganzen Schrott, wir verkaufen oder verschenken jetzt einfach alles!“? Natürlich muss das Militär teilen – alleine die Formel fürs verantwortungsvolle Verteilen muss erst einmal gefunden werden. Es ist natürlich einfach, die Missstände in Ägypten zu benennen. Das kann so ziemlich jeder, der sich nur ein klein wenig mit dem Land beschäftigt hat. Aber ich habe andererseits noch keinen einzigen Menschen erlebt, der auch nur ansatzweise so etwas wie eine Lösung angeboten hätte.

Natürlich muss sich das Militär von seinem Wirtschaftsimperium trennen. Aber wie soll es das tun, ohne dass in Ägypten der ganze Laden endgültig zusammenbricht? Vielleicht erinnert sich ja noch der eine oder andere daran, als die alte Bundesrepublik 1990 die Industrieparks der angeblich siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt übernommen hatte. Am Aufbau Ost werkelt Deutschland inzwischen seit 25 Jahren herum – und das mit der wirtschaftlichen Potenz Westdeutschlands im Rücken. Wer würde denn Ägypten helfen, wenn die Militärs die Firmen auf den Markt werfen würden? Die Saudis? Das kann ernsthaft niemand wollen.

Wer die Wahl hat

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob er mich nicht einfach nur testen wollte. Jedenfalls fragte mich mein Fahrer am Samstagabend, ob und was er denn wählen solle. Das wunderte mich schon ein wenig, denn in den letzten zehn Tagen hatte ich ihn nicht nur als überaus pünktlich, sondern auch als recht reflektiert kennengelernt. Mursi hält er für übel, und wenn es einer richten kann, dann wird es wohl Abdel Fatah al Sisi sein. So denken viele Ägypter, vor allem an der Küste, wo seit nun drei Jahren die Touristen fehlen.

Ich antwortete dem Fahrer, dass es ganz wichtig sei zu wählen, schon deshalb, weil dieses Mal die Reihenfolge richtig sei: Erst eine Abstimmung über die Verfassung und dann erst die Wahl des Parlaments. Diese Einschätzung nahm er nachgerade begeistert auf und versprach natürlich, wählen zu gehen – und für die Verfassung zu stimmen.

Hätte die richtige Reihenfolge etwas an dem Ablauf der Geschichte geändert? Ich glaube schon. Dadurch, dass vor zwei Jahren ein Parlament gewählt wurde, das anschließend eine Verfassung verabschieden sollte, konnten sich die Islamisten ihre Konstitution praktisch zurechtzimmern. Eine bereits bestehende Verfassung hätte Moslembrüder und Salafisten möglicherweise Zügel anlegen können.  Nun haben alle gesellschaftlich relevanten Gruppen mit Hand angelegt, um eine neues Grundgesetz zu entwerfen. Es ist nun deutlich demokratischer, weniger auf Religion zugeschnitten und gewährt Minderheiten mehr Schutz und Rechte. Der berühmt-berüchtigte Paragraph 2, der schon unter Anwar al Sadat in »Koran und Scharia sind die Quelle des ägyptischen Rechts« geändert wurde, wurde wieder auf die Nasser-Zeit zurückgefahren, als nur von »einer Quelle des ägyptischen Rechts« die Rede war.

Positiv ist sicher auch zu bewerten, dass die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränkt ist. Eine Dauerherrschaft wie die von Hosni Mubarak sollte also nicht mehr drohen.

Insgesamt wird die Verfassung auch im stets kritischen Westen als demokratischer Fortschritt gewertet. Allerdings gibt’s da ja noch die Passagen, die das Militär stärken. Da hat sich jedoch auch nicht so viel geändert. Das Militär bestimmt selbst den Verteidigungsminister, was allerdings nichts Neues ist. Es bleibt auch dabei, dass der Vertedigungshaushalt geheim bleibt und weder Parlament noch Regierung reinreden können. Neu sind allerdings die Militärtribunale, die nun auch Zivilisten aburteilen können, und das ist dann doch ein herber Wermutstropfen in einer sonst sehr demokratisch anmutenden Verfassung.

Es steht wohl außer Zweifel, dass die Verfassung angenommen wird. Manche rechnen sogar mit einer Zustimmungsrate von 80 Prozent. Soviele werden es vielleicht nicht werden. Problematisch ist vielmehr die Wahlbeteiligung. Bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gingen gerade einmal rund 40 Prozent der Ägypter an die Wahlurnen. Wären es bei der Verfassungsabstimmung wieder weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, wäre dies eine herbe Niederlage für die Übergangsregierung, den »Rat der 50«, der die Verfassung ausgearbeitet hat, und vor allem für den starken Mann al Sisi.

Die Auslandsägypter haben bereits abgestimmt und stehen zu etwa 90 Prozent hinter der neuen Verfassung. Allerdings haben nur rund 20 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Ob sich das auf das ganze Land übertragen lässt, ist jedoch fraglich.

Doch egal, wie das Referendum ausgeht, eines ist jedenfalls sicher: Die Ägypter haben sich eine neue Verfassung gegeben, und sie stimmen darüber ab. Das haben nach den Wochen im Sommer viele Kritiker bezweifelt. Schade ist allerdings, dass sich der »Rat der 50« nicht mehr Zeit nehmen konnte. Die USA lebten immerhin elf Jahre ohne ihre Constitution. Die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes hatten mehr als ein halbes Jahr Zeit. Dass ausgerechnet diese beiden Länder Ägypten in Sachen Verfassung zur Eile mahnten, ist dann schon ein wenig seltsam.

Das Referendum über die neue Verfassung wird ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratie sein. Wie groß dieser Schritt sein wird, das hängt jetzt davon ab, wieviele Menschen in die Wahllokale gehen. Rund 50 Millionen Ägypter sind wahlberechtigt. Anfang Juli gingen angeblich 30 Millionen auf die Straße, um gegen Mursi zu demonstrieren. Wenn die jetzt alle wählen gingen, läge die Wahlbeteiligung bei 60 Prozent. Und damit könnten sie in Ägypten schon ganz gut leben.

Die Mär vom Militärputsch

Es war ein faszinierender Abend in der Berliner Urania. Eingeladen hatte der ägyptische Botschafter Mohamed Hagazy zu einem Konzert des Light-and-Hope-Orchestra. Das besondere an diesem Symphonieorchester ist: Es besteht aus 50 blinden Frauen aus Ägypten. Ohne Notenblätter und ohne einen Dirigenten am Pult ein zweistündiges Konzert zu geben, ist schon eine ganz erstaunliche Sache.

Das Light-and-Hope-Orchestra in der Berliner Urania. Foto:psk

Das Light-and-Hope-Orchestra in der Berliner Urania. Foto: psk

Es hätte eine dieser positiven Nachrichten sein können, die Ägypten so dringend braucht. Doch natürlich wurde auch an jenem Abend vor der Urania von einer Handvoll Demonstranten gegen den vorgeblichen Militärputsch protestiert. Einer hatte es auch in den Saal geschafft, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er das wunderbare Konzert nicht gestört hat. Nach dem frenetischen Applaus und den Standing Ovations schaffte es der Demonstrant auf die Bühne – und bedankte sich zunächst sehr lautstark für das schöne Konzert, lobte Ägypten. Da schallte ihm noch ein vielstimmiges, wenn auch leicht verwirrtes „Shukran“ entgegen. Als er aber dann auf die 50 Toten vom Vortag zu sprechen kam, wurde er fix von der Bühne entfernt. Botschafter Hagazy rettete die Situation und den Abend kurzerhand damit, dass er ein ägyptisches Volkslied anstimmte, das der ganze Saal begeistert mitsang.

Das wäre es doch, wenn das ganze Land seine Proteste, seine Probleme und seine Gewalt einfach wegsingen könnte. Mich persönlich würden die Proteste der verbliebenen Moslembrüder weit mehr überzeugen, wenn sie statt Knarren Blumen in der Hand hätten. Soll jetzt niemand sagen, dass sie sich damit nicht gegen Polizei oder Militär wehren könnten. Wenn sie nämlich sowieso für ihre Überzeugung sterben wollen, ist es doch letztlich völlig egal, was sie in der Hand haben. Und Gewaltlosigkeit war am Ende dort allemal erfolgreicher, wo Jahrzehnte des Blutvergießens nichts gebracht hatten – siehe Indien.

Doch so lange die Mär vom Militärputsch weiter Verbreitung findet, so lange wird das wohl auch nichts mit der Gewaltlosigkeit. Mit dem Verweis auf den Militärputsch rechtfertigen die Moslembrüder ja ihrerseits ihre Gewalt. Doch jeder der dieses Wort vom Militärputsch so locker im Munde führt – und das sind längst nicht nur Moslembrüder – hat bislang offensichtlich einen völligen Widerspruch in der jüngsten Ägyptischen Geschichte gar nicht auf dem Schirm. Wenn das nämlich ein Putsch war, was war dann die glorreiche Revolution von 2011? Vergleichen wir mal beide Ereignisse:

2011 begannen die Proteste am 25. Februar. Das Militär verhielt sich zunächst neutral. Am 11. Februar wurde Hosni Mubarak von den Militärs zum Rücktritt gezwungen, die anschließend die Macht in Form des SCAF, des obersten Militärrats, übernahmen. Sie gaben sie anderthalb Jahre auch nicht wieder her.

2013 begannen die Proteste am 30. Juni. Die offensichtliche Mehrheit des Volkes forderte Neuwahlen. Das Militär verhielt sich nicht neutral, schloss sich den Forderungen an. Mursi flüchtete sich in eine Kaserne (er wurde nicht mal irgendwo festgenommen) und wurde dort festgehalten. Der Oberbefehlshaber beruft einen runden Tisch ein und bestimmt den obersten Richter Adli Mansur, einen Zivilisten, zum neuen Präsidenten.

Wenn man beide Sachverhalte miteinander vergleicht, was war dann wohl eher ein Militärputsch? Nach der Ereignissen von 2011 wurden die Ägypter von der ganzen demokratischen Welt gelobt, 2013 von den gleichen Leuten kritisiert. Mir erscheint das ein wenig absurd. Mit Sicherheit gibt es einiges, was am Ägyptischen Militär zu kritisieren ist – vor allem, dass es nicht kritisiert werden darf. Aber eines ist auch klar: Ägypten ist nicht Argentinien oder Chile. Die Bedeutung und die Stellung des Militärs in der Gesellschaft ist eine ganz andere, als in anderen Ländern. Ich versuchte das schon einmal in den Blogbeiträgen „Die Macht der Generale“ und „Armee in der Falle“ zu beschreiben.

So lange die große Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Militär steht, haben die demokratischen Kritiker im Grunde auch schlechte Karten. Aber wie schnell sich Mehrheiten ändern können, hat man gerade in Ägypten besichtigen können.

Die Macht der Generale

Die Frage kommt, aber leider viel zu selten. Manchmal fragen mich Leute: „Woher kommt eigentlich die große wirtschaftliche Macht der Militärs in Ägypten?“ Komisch eigentlich. Man kann sich ja durchaus mal die Frage stellen, warum sich eine riesige Armee nicht auf ihre Kernkompetenz beschränkt und einfach Armee ist. Im Gegenteil: gerade ihre Kernkompetenz scheint ja völlige Nebensache zu sein. Gerade die, die am lautesten beklagen, dass die Armee nun wieder die Strippen zieht, haben sich offenbar mit dieser Grundfrage noch nie beschäftigt. Dabei könnte sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sein.

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

Die Ursprünge für diese wirtschaftliche Machtfülle dürften bei Gamal Abdel Nasser liegen. Mit der Gruppe der „Freien Offiziere“ putschte er 1952 König Faruk von der Macht, die er zwei Jahre später entgültig an sich riss. Nasser hatte eine ganz klare Leitlinie, und die hieß Unabhängigkeit. Nach der Quasikolonialzeit unter den Briten suchte Nasser für Ägypten die bedingungslose Unabhängigkeit, nicht nur staatlich, sondern auch diplomatisch und vor allem wirtschaftlich. Mit dem Regierungschefs von Indien und Jugoslawien, Nehru und Tito gründete er die „Blockfreien Staaten“. Die wollten im kalten Krieg weder von den Amerikanern noch den Sowjets abhängig sein.

Wenn man allerdings über eine rückständige Industrie, wie Ägypten verfügt, ist es relativ schwierig wirklich wirtschaftlich unabhängig zu sein. Trotzdem forderte Nasser von seinem Land die völlig Autarkie: „Von der Nähnadel bis zur Atomrakete“ müsse alles im Land selbst hergestellt werden. So wird die Sache schnell klar: Wenn Autarkie Staatsziel wird, dann muss im Zweifel auch die Armee ran, um dieses Staatsziel zu erreichen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass Nasser seine Ziele jetzt nicht unbedingt zu hunderprozent umsetzen konnte. Um ehrlich zu sein, ist er mit seinen Projekten, abgesehen vom Nasserstaudamm ziemlich kläglich gescheitert. Am Ende landete er in sowjetischer Abhängigkeit und was von der ägyptischen Autoindustrie übrig geblieben ist, ließ sich vor ein paar Jahren noch beim Minibusfahren in Hurghada besichtigen. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht – ja nach dem – mit Entsetzen oder Erheiterung an die Eltramco Busse. Was blieb, war ein immer weiter wachsendes Wirtschaftsimperium des Militärs. Nur warum wuchs es nur? Ganz einfach: Es dient bis zum heutigen Tag der wirtschaftlichen Absicherung ausgeschiedener Militärs.

Jeder, der verlangt, dass die Militärs ihrer wirtschaftlichen Macht entsagen, muss zwangsläufig auch eine Antwort darauf finden, wie er die daraus folgenden schweren sozialen Verwerfungen verhindern will. Es geht ja nicht nur darum, dass ein paar Generale in den Ruhestand versetzt werden.

Genau so wenig, wie der Westen eine Antwort darauf hatte, was die Alternative zur Räumung der MB-Lager in Kairo gewesen wäre, hat er natürlich eine darauf, was mit dem, zum Teil ja maroden, Wirtschaftsimperium der Generale werden soll. Gerade wir in Deutschland haben ja erlebt, was es heißt, eine marode Industrie zu übernehmen. Nun sind die sozialen Grundlagen in Ägypten deutlich schwächer, als sie in der DDR 1990 waren.

Dass sich der Westen auf recht unsachliche Weise mit den derzeitigen Umständen in Ägypten auseinandersetzt, führt zu der paradoxen Situation, dass die Macht des Militärs nicht gemindert, sondern gestärkt wird. Mit jedem kritischen Wort aus dem Ausland wächst die Sympathie für Abdel Fatah al Sissi. Interessanter ist aber ein anderes Phänomen: Die ägyptische Jugend entdeckt gerade ein neues Idol, so hört man: Gamal Abdel Nasser. Ob das dem Westen gefällt lassen wir mal dahingestellt. Aber er hat sicher selbst dazu beigetragen.

Armee in der Falle

Viele durchaus sehr demokratische gesinnte Menschen rätseln darüber, wie ein amerikanischer Präsident über die Vorgänge in Ägypten besorgt sein kann, oder warum ein deutscher Außenminister den Machtwechsel gar als Rückschlag für die Demokratie wertet. Entweder haben beide von nichts eine Ahnung, oder sie sind schlecht beraten – oder sie fürchten sich vor etwas. Tatsächlich hat sich in Ägypten etwas getan, was vor allem den amerikanischen Präsidenten in große Sorgen versetzen muss. Die ägyptische Armee, die im Moment als der große Machtfaktor dasteht, die einen gewählten Präsidenten aus dem Amt gejagt hat und zudem einen Staat im Staat bildet, ist ja gleichzeitig auch einer der wichtigsten Verbündeten der USA in dieser Region. Immerhin sponsorn die Amerikaner das ägyptische Militär mit 1,4 Milliarden Dollar im Jahr. Und diese Armee hat vorgestern bei näherem Hinschauen eigentlich eine ganz empfindliche Niederlage einstecken müssen. Im Moment wird das alles durch Jubelszenen auf dem Tahrir überdeckt. Aber Barak Obama muss ich in der Tat sorgen um die ägyptische Armee machen. Diese Revolution 2.0 könnte sie nämlich nachhaltiger ändern, als das viele im Moment glauben mögen.

Schauen wir uns das Militär mal etwas genauer an. Die Führungsspitze ist weder demokratisch noch besonders freiheitlich orientiert. In den Militärakademien kursieren unter den künftigen Offizieren das Landes solch literarische Blüten wie zum Beipiel „Mein Kampf“. Durch übermäßig große Lust an der Kriegsführung ist Ägyptens Armee seit 40 Jahren – Gott sei Dank – auch nicht mehr aufgefallen. Dafür haben die Militärs ein Wirtschafts- und Verwaltungsimperium aufgebaut, das seines gleichen sucht. Panzer und Raketen sind weitgehend Nebensache und dienen eher als Spielzeug. Längst die die Armee ein sich selbst erhaltendes System geworden – steuerfrei.  Man kann nicht einmal sagen, dass die Armee das Land systematisch ausblutet. Sie schafft ja auch Arbeitsplätze – sehr viele sogar. Staat und Armee sind eher in einer symbiotischen Struktur miteinander verbunden. Und genau das macht sie nun angreifbar.

Hat der Jungenfrauentester Abdel Fatah al Sissi tatsächlich in einer Anwandlung von Demokratiebesoffenheit Tamarod die Hand gereicht? Hat er sich nach einem Damaskuserlebnis vom Saulus zum Paulus gewandelt, zum großen Freiheitskämpfer? Möglich, aber kaum anzunehmen. Nein, der oberste Militär hat sich erpressen lassen – vom Volk. So einfach sieht es aus. Seit etwa einem halben Jahr wurden die Stimmen immer lauter, das Militär solle eingreifen. Es hatte seit Monaten immer wieder mal sehr wachsweiche Ankündigungen der Armee gegeben, vielleicht mal irgend wann etwas zu tun, wenn es mit der Wirtschaft weiter bergab gehe. Das wurde zurecht als der kolossale Unwille gewertet, in die Politik aktiv einzugreifen. Doch auf einmal ging alles sehr schnell. Als Tamarod plötzlich Millionen auf die Straße brachte und am vergangenen Sonntag das Ultimatum vom Tahrir kam, reagierten die Militärs. Kaum hatten die Demonstranten mit bedingungslosem zivilen Ungehorsam gedroht, kam auch schon ein Ultimatum der Armee. Warum wohl? Sie hatten das Wort vom „bedingungslosen Ungehorsam“ völlig richtig mit „Generalstreik“ übersetzt. Doch wem hätte denn ein Generalstreik am meisten geschadet? Doch denjenigen, die am meisten Menschen beschäftigen. Um es platt auszudrücken: Die Militärs fürchteten die Pleite ihrer eh schon ausgesprochen angeschlagenen Unternehmen.

Doch warum war das Eingreifen des Militärs nun langfristig eine Niederlage? Erstmals in der jüngeren Geschichte hat sich das Militär vom Volk zu etwas zwingen lassen. Es hat eine offene Flanke gezeigt und offenbart, wo es verwundbar ist: Nämlich genau dort, wo es verdient. Die Androhung von Streiks werden die Militärs nicht weniger beunruhigen, als die Ankündigung Obamas die jährliche Militärhilfe zu überdenken. Wenn das dem ägyptischen Volk klar wird, dann kann das der erste Schritt sein, um die alt her gebrachten Strukturen aufzubrechen.

Niemand kann im ernst erwarten, dass sich das Militär von heute auf morgen von seine Reiseunternehmen und Nudelfabriken trennt. Aber das Volk kann sehr wohl vom Militär erwarten, dass es in einer großen wirtschaftlichen Krise endlich einmal damit anfängt, Steuern zu bezahlen. Es kann auch darauf pochen, dass es irgendwann seine Finanzen offenlegt. Wie es dann weiter geht? Man wird sehen.

Aber auch das Militär hat ja seine Möglichkeiten. Es steht ja unter dem Druck, der Welt, vor allem der westlichen, beweisen zu müssen, dass das, was da in Ägypten passierte, auch rechtens ist und das geht nur über einen Erfolg der Regierung – einer zivilen Regierung der nationalen Einheit. Die Erfahrungen mit der Opposition in der Vergangenheit sind leider wenig ermutigend. Da hatte sich zum Beispiel der ägyptische Block mit 15 Parteien, Verbänden und Gewerkschaften selbst so zerlegt, dass nur noch drei Parteien übrig blieben. Nun müssen sich die einstigen Oppsitionskräfte zusammenraufen. Dass sie es schaffen wäre eher unwahrscheinlich, stünde nicht das Militär im Hintergrund, das sie möglicherweise dazu zwingt.

Wie immer man das Kind vom 3. Juli nennen will, zweite Revolution, Putsch oder Staatsstreich – eines ist jedenfalls klar: Die Armee ist dem Volk in die Falle gegangen – nicht umgekehrt.

Sissi soll’s richten?

Für mich gehört zu den erschütterndsten Folgen der Revolution in Ägypten, dass es nun ausgewiesene Demokraten sind, die laut einen Militärputsch herbeirufen. Wie verzweifelt müssen die einstigen Revolutionäre sein, wenn sie Freiheit und Demokratie auf diese Art und Weise beerdigen? Allerdings darf der europäische Beobachter dabei eines auch nicht außer acht lassen: Das Militär genießt in Ägypten ein überaus hohes Ansehen. Im Gegensatz übrigens zu Polizei und Sicherheitskräften. Daran änderte sich auch nichts, als der Oberste Militärrat vor einem Jahr dann doch recht kläglich an der stets ungeliebten Regierungsverantwortung scheiterte.

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit.                 Foto: psk

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit. Foto: psk

Vor einem Jahr dann ereignete sich Erstaunliches. Mohammed Mursi stürzte den Militärrat und seinen Chef, Feldmarschall Tantawi. Ob das ein genialer Schachzugs Mursis war, oder doch nur ein abgekartetes Spiel, darüber wird heute noch trefflich gestritten. Allerdings gibt es aus der heutigen Sicht nur noch ganz wenige, die Mursi einen solchen Geniestreich zutrauen. Entweder war er damals gut beraten, oder Tantawis Rausschmiss war das berühmte Korn, das auch mal ein blindes Huhn findet.

Sein Nachfolger heißt Sissi – ja, er heißt so und nun keine Witze mit Namen bitte – und der hat sich bislang stets zurückgehalten. Nun ist er ja nicht gerade ein Mann der Opposition. Aber seine Äußerungen in der Vergangenheit klangen nachgerade demokratietragend. Ein Eingreifen der Armee würde Ägypten in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. So war es im Handelsblatt zu lesen. Mann kann es aber auch so interpretieren, dass er meinte: „Hände weg von den Moslembrüdern.“ Die haben das allerdings schon alleine geschafft. Wahrscheinlich gelang es in der bisherigen Weltgeschichte nur den Roten Khmern, ihr Land nach der Machtübernahme noch schneller herunterzuwirtschaften.

Inzwischen klingt Armeechef Abdel-Fattah al-Sissi auch ein wenig anders. Er warnte nun, dass das Militär notfalls doch eingreifen werde, wenn Ägypten, in einem „dunklen Tunnel“ zu versinken drohe, berichtet der Zürcher Tagesanzeiger. Vorausgegangen waren Drohungen von Mursi-Anhängern, Demonstranten am 30. Juni bei der geplanten Großdemonstration totzuschlagen. Morddrohungen gegen die Opposition aus dem islamistischen Lager sind inzwischen freilich an der Tagesordnung.

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich das Militär erstmals so eindeutig positioniert hat. Es zeigt, dass die Moslembrüder ganz rasant auch an Ansehen verlieren. Und es zeigt weiter, dass es das Militär seinerseits mit der Angst zu tun bekommt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das die große wirtschaftliche Macht: 40 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von Militärunternehmen erwirtschaftet. So, wie die Wirtschaft im letzten Jahr zusammenkrachte, geht es der Armee inzwischen richtig ans Eingemachte. Zum anderen fürchten die Militärs auch um ihre Popularität im Volk. Es ist ja nicht so, dass von den rund 47 Prozent, die die Brüder gewählt hatten, die meisten Mord und Totschlag befürworten. Im Gegenteil.

Und dann gibt’s da noch eine andere Meldung, die al-Sissi wohl bestätigen dürfte. Südlich von Kairo wurden jetzt erstmals vier Schiiten von einem 3000-köpfigen Mob umgebracht. Es waren mal wieder Salafisten-Prediger, die offen zu Gewalt an etwa 40 Schiiten aufgerufen hatten. Im Parlament machen die Moslembrüder, aller heiligen Eide zum Trotz, seit einem Jahr gemeinsame Sache mit der Partei „El Nur“, dem politischen Flügel der Salafisten. Die haben nun nicht mehr nur christliche Kopten, sondern auch andersgläubige Moslems im Visier. Das könnte die Geduld der Mehrheit der Ägypter so langsam überstrapazieren

Ob der 30. Juni, wie viele Oppositionelle hoffen, der Auftakt zur „Zweiten Revolution“ sein wird, daran habe ich meine Zweifel. Aber die Anzeichen auf einen Zerfall der Mursi-Ära werden immer deutlicher. Das sehen offensichlich auch andere so. Vor knapp einer Woche beklagte ich noch, wie rasant das Ägyptische Pfund auseinander bricht. Da bekam man für einen Euro neun Pfund und 36 Piaster. Heute sind es neun Pfund und 18 Piaster. Man muss sich auch an kleinen Dingen freuen können.

Aufgeben gilt nicht

Vor mehr als einem halben Jahr habe ich in diesem Blog den letzten Beitrag veröffentlicht. Nach einem Jahr dachte ich, dass es jetzt mal gut sein müsste. Allerdings war mir aber, angesichts der ägyptischen Politik – darf man dieses Chaos überhaupt so benennen? – auch die Lust vergangen, noch weiter zu schreiben. Außerdem kam ich mir ziemlich bescheuert vor. Tatsächlich hatte ich eine Zeit lang daran geglaubt, dass die Moslembrüder die Kurve bekommen würden. Am Ende behielten die Recht, die von Beginn an vor der Bruderschaft gewarnt hatten.  Doch selbst die sind nun von dem Ausmaß der Konfusion ziemlich überrascht.

Gute Nacht, Ägypten?

Gute Nacht, Ägypten?

Diejenigen, die den Brüdern zutrauten, das Land zu ordnen oder wenigstens richtig zu verwalten, verwiesen ja nicht ohne Grund darauf, dass die Bruderschaft, die in diesem Jahr immerhin 85 Jahre(!) alt wird, stehts straff geführt und sehr gut durchorganisiert war. Und nur dieser Organisationsgrad habe es möglich gemacht, dass die Moslembrüder auch in der Zeit, da sie verboten waren, effektiv weiter arbeiten konnten und sogar wuchsen.

Von höherer Organisation- und Verwaltungskunst ist heute bei den Brüderen nichts mehr zu erkennen. Im Gegenteil. Die Versorgungslage wird von Tag zu Tag schlechter. Das Stromnetz steht vor dem Kollaps, die Produktion wird immer geringer, die Preise explodieren, die Einnahmen aus dem Tourismus brechen weg, das ägyptische Pfund zerfällt (aktueller Kurs heute: 1:9,36). So ziemlich jedes Gebiet in Wirtschaft und Gesellschaft ist heute deutlich schlechter dran, als zu den Zeiten Mubaraks. Auch Sitten und Moral verfallen – was nun ausgerechnet bei den islamischen Sittenwächtern seltsam anmutet. Im Februar wurde ich auf dem Flughafen in Hurghada Zeuge einer unfassbar bizarren Szene: Da kam es zu einer Prügelei zwischen Angehörigen des Sicherheitspersonals, weil sie sich nicht darüber einigen konnten, welches von drei Durchleutungsgeräten für die Passagiere benutzt werden sollte (Für alle, die sich auskennen: Das ganze spielte sich zwischen Passkontrolle und Duty-Free-Bereich ab).

Die jüngsten Schlagzeilen aus Ägypten sind auch alles andere als ermutigend. Mursi hat acht neue Gouverneure ernannt. Besonders „feines Gespür“ bewies er bei der Ernennung des Gouverneurs von Luxor. Adel Asaad al-Chajat gehört zur Gamaa al Islamiyya und damit zu der Organisation, die 1997 für das fürchterliche Blutbad am Hatshepsuttempel vor den Toren von Luxor verantwortlich gemacht wird.

Aussicht auf Besserung? Viele Ägypter schielen teils hoffnungsvoll, teils angstvoll auf den 30. Juni. Da sind in Kairo wieder große Proteste angekündigt. Mittlerweile schwirrt schon das Wort von der „Zweiten Revolution“ durchs Internet. Als hätten sie von der ersten noch nicht genug. Und dann ist da noch die Sache mit dem Militärputsch. Selbst überzeugte Demokraten sehnen sich den inzwischen herbei, weil sie glauben, dass dann wieder Ruhe und vor allem eine gewisse Ordnung im Land einkehren. Aber die Militärs zieren sich. Sie müssten ja dann Verantwortung übernehmen, das haben sie ja schon nicht getan, als sie in Form des Obersten Militärrats (SCAF) an der Macht waren. Mursi und seine Brüder haben im letzten Jahr schon weiß Gott viel Unheil angerichtet. Aber was der SCAF hinterlassen hatte, war auch alles andere als ein geordnetes Haus. Und dann noch eines: Als Mursi vor einem Jahr den greisen Feldmarschall Tantawi kurzerhand vor die Tür setzte, ordnete er auch den Militärrat neu. Nun muss man sicher nicht dreimal raten, wieviele Kritiker Mursis oder der Moslembrüder in dem höchsten Militärgremium sitzen.

Eine andere ägyptische Hoffnung stirbt derzeit jenseits des Mittelmeeres auf dem Taksimplatz in Istanbul. Rund zehn Jahre lang hat in der Türkei eine islamische Partei der Welt gezeigt, dass sie auch Demokratie kann – und das noch mit bis zu neun Prozent Wirtschaftswachstum. Das Thema dürfte nun auch begraben werden. Die Türkei als Vorbild für Ägypten? Fatalerweise scheint es ja umgekehrt zu sein. Erdoğans Rhetorik erinnert fatal an Mursis Geschrei mit dem Tenor „Wir haben die Mehrheit, wir dürfen alles“.

Wenn ich auf die Blogbeiträge vom vergangenen Jahr schaue, dann waren sie am Anfang eigentlich sehr von Hoffnung und Zuversicht getragen und wurden – analog zur politischen Entwicklung – immer pessimistischer. Natürlich ist der Frust groß, dass meine optimistischen Prognosen nicht eingetroffen sind. Aber vielleicht ist es auch inkonsequent, der ägyptischen Opposition vorzuwerfen, dass sie lieber wegläuft, als sich im Parlament beschimpfen zu lassen, und selbst in Schweigen zu verfallen, weil die eigenen Prophezeiungen kläglich danebengegangen sind. Aufgeben gilt nicht. Das sollte ich eigentlich von all den Freunden in Ägypten gelernt haben, die dort Fuß gefasst haben und allen Widrigkeiten zum Trotz im Land bleiben und weitermachen. Also: Ab jetzt an dieser Stelle wieder mehr – und dank an alle, die mir dazu einen kleinen Tritt gegeben haben. Dann sollte ich es in Zukunft halten wie Mark Twain: Ich mache keine Vorhersagen, schon gar nicht, wenn sie die Zukunft betreffen.

Mursi, Lincoln und der Weihnachtsmann

Ägypter zu verstehen ist für Europäer nicht immer leicht, auch für mich nicht. Doch manchmal verstehe ich Europäer, die in Ägypten leben, noch weniger. Geradezu bizarr erscheint mir, wie derzeit der ägyptische Präsident Mohammed Mursi bewertet wird. Vor allem die Korrespondenten scheinen mir merkwürdig in ihren Analysen. Der Spiegel sieht in ihm einen neuen Pharao, die ARD spricht davon, dass er eine größere Machtfülle habe, als Mubarak sie jemals gehabt habe. Von einer neuen Diktatur ist die Rede. Auf Blogs in in Foren wird eifrig darüber diskutiert, ob Mursi seine Moslembrüder nun wirklich in alle nur denkbaren Schlüsselpositionen boxen will. Kommen auf Ägypten nun ganz schlimme Zeiten zu?

Baut Mohammed Mursi das Amt des Präsidenten zur islamistischen Trutzburg aus? (Fort des Sultan selim in El Qesir)

Vielleicht lohnt es einfach mal, sich die letzten Wochen und Monate genauer anzusehen. Bislang hat Mursi nichts von dem getan, was man ihm unterstellt hat. Im Gegenteil. Er hat sowohl die eigenen Landsleute, als auch die Welt überrascht. Da war die Entmachtung des Militärrats, der beeindruckende Auftritt bei der Vorversammlung der Blockfreien, das Verbot, Journalisten beim Verdacht der Präsidentenbeleidigung in Untersuchungshaft zu nehmen und jetzt gerade der Waffenstilstand zwischen Palästinensern und Israelis (mal sehen wie lange der hält). Der Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud, der ihm vor wenigen Wochen noch getrotzt hatte und nur „als Leiche“ seinen Posten verlassen wollte, ist nun auch weg. Gerade das sei der Beleg dafür, dass Mursi nach Exekutive und Legislative nun auch noch die Judikative an sich gerissen habe. Nun hatte aber eben jener Generalstaatsanwalt eine doch recht große Nähe zum alten Regime Mubarak erkennen lassen. Die, die Mursi die Entlassung Mahmuds vorwerfen, beklagen sich andererseits darüber, dass die Mubarak-Ära nur unzureichend von den Gerichten aufgeklärt wird.

Dass er die Legislative nun im Zaum hält, ist bislang noch nicht zum Schaden für das Land gewesen. Im Parlament sitzen zwei Drittel Islamisten. Die meisten davon gehören zu seiner Klientel. Genau die hält er doch in Schach, damit sie nicht noch größeren Unsinn anrichten. Mit einigermaßen großem Entsetzen mag sich der eine oder andere vielleicht noch an Gesetzeseingaben der Salafistenpartei El Nur erinnern (Wie lange darf ein Mann nach dem Tod seiner Frau noch Verkehr mit ihr haben?). Entscheidend wird natürlich sein, wann es dann tatsächlich zu Neuwahlen kommen und wie stark dann das neue Parlament sein wird.

Bislang zielten die Vorwürfe gegen Mursi nur auf das, was er bis dato nicht getan hatte – nämlich einen großen Teil seiner Wahlversprechen einzulösen – und das was er vielleicht als gewesener Moslembruder tun könnte. Nun steht also der Vorwurf im Raum, dass er sich diktatorische Vollmachten angeeignet habe. Um damit was zu tun?

Ägypten steht vor kaum lösbaren Problemen. Da ist die Überbevölkerung aus der eine Ernährungs- und Energiekrise erwächst, die im Frühjahr möglicherweise erst ihren Höhepunkt erreichen könnte, wenn die Weltmarktpreise für Getreide in die Höhe schnellen. Da ist die Bildungsmisere, das marode Gesundheitssystem – und vor allem sind da die leeren Kassen. Ägypten wäre faktisch pleite, wenn da nicht noch ein wenig Geld aus den USA kommen würde. Vielleicht wäre es für Mursi ja einfacher, die Knete in Saudi Arabien oder Katar abzuholen. Hat er aber bislang vermieden. Warum wohl nur?

1860 wählten die Amerikaner Abraham Lincoln zum Präsidenten, in der Hoffnung, er werde Sezession und Bürgerkrieg vermeiden. Als er daran scheiterte, setze er alles daran, die Union wieder herzustellen. Er maßte sich ebenfalls diktatorische Vollmachten an. Er missachtete den Kongress, ignorierte die Gerichte und trickste sogar bei der Sklavenbefreiung. Hat er das alles getan, weil es ihm Spaß gemacht hat? Zeitzeugen sagen, dass er alles andere als ein Diktator war, aber auch keine andere Alternative zu seinem Handeln gesehen habe.

Es ist schon erstaunlich, was sich für Parallelen zwischen den beiden auftun. Beide stammen aus einfachen, ländlichen Verhältnissen. Beide wurden von ihren Parteien als Kompromisskandidaten für die Wahl des Präsidentenamtes aufgestellt. Beide wurden für ihr Kommunikationsverhalten belächelt. Beide banden ihre politischen Gegner in ihr Kabinett ein, und beide zeichnet ein Hang zu überraschenden politischen Entscheidungen aus. Beide standen vor der Aufgabe, eine existenzbedrohende Krise in ihrem Land zu meistern. Und beide scheinen sich dazu diktatorischer Mittel zu bedienen. Außerdem vermute ich, dass Mursi die gleiche persönliche Bescheidenheit auszeichnet, wie sie Lincoln nachgesagt wird.

Nicht wenige Europäer haben sich nach dem Sturz Mubaraks hinter vorgehaltener Hand darüber beklagt, dass jetzt die Sicherheit und Berechenbarkeit in Ägypten völlig zum Teufel gegangen sein. Andere behaupten gar klipp und klar, dass die Ägypter gar nicht zu einer Demokratie fähig seinen und sich im tiefsten Inneren ihres Herzens ja doch nur einen starken Mann wünschen. Tja – nun ist er überraschend da – und dann ist es wieder nicht recht?

Jeder, aber auch wirklich jeder, den ich kenne, wünscht sich, dass das arme Land endlich wieder in ruhiges Fahrwasser gerät, dass seine immensen Problemberge endlich abgebaut werden. Doch ist es wirklich realistisch, dass dies mit einem so besetzten und demokratisch legitimierten(!) Parlament überhaupt möglich ist? Man könnte es ja probieren – oder genauso gut auf den Weihnachtsmann warten. Der wird es dann auch schon irgendwie richten.

Durchgreifende und wirksame Reformen müssen schnell kommen, denn das Land hat keine Zeit mehr. Im Frühjahr stehen sie alle da: Der IWF, die Lebensmittelspekulanten, die Ölscheichs – und alle werden sie die Hand aufhalten oder auf Haushaltskürzungen drängen. Wie soetwas dann in einem zerstrittenen Parlament weitergeht, hat die Welt jetzt ein paar Jahre lang in Griechenland besichtigen können.

Man mag Mursi mögen oder nicht. Man mag ihm vertrauen oder nicht. Aber er ist im Moment der Einzige, den sie haben. Er muss die Karre jetzt wieder aus dem Dreck ziehen. Sonst wird das auf Dauer keiner tun.

Warum Ägypten kein islamistischer Gottesstaat wird

Was den neuen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi betrifft, war ich lange Zeit hin und her gerissen. Ich fragte mich, ob der neue Präsident ein Vollidiot oder vielleicht doch ein begnadeter Politiker ist. Ersteres stimmt offensichlich nicht, zweiteres steht noch aus. Allerdings hat Mursi in den letzten vier Wochen mit drei Aktionen überrascht:

  1. Er hat mit einem Handstreich den Militärrat entmachtet und dessen Vorsitzenden Mohammed Tantawi kaltgestellt.
  2. Er hat einen moslembrüder-kritische Journalisten aus dem Knast geholt, der dort in U-Haft wegen des Verdachts der Präsidentenbeleidigung saß.
  3. Er hat Irans Präsident Achmadinedschad während er Konferenz der Blockfreien in Teheran brüskiert und isoliert.

Seine Kritiker sind einigermaßen verblüfft. Doch ihre Gegenargumente beruhen derzeit nur auf Mutmaßungen und Aussagen aus Mursis Vergangenheit, konkret im Wahlkampf. Zumindest seine bisherigen Taten sprechen eine andere Sprache. Grundsätzlich gilt wohl eines: Obwohl Mursi offiziell die Moslembrüder verlassen hat, bleibt er natürlich ein frommer und wohl auch sehr konservativer Moslem – was im Übrigen der im Westen so hochverehrte Anwar al Sadat auch war, dessen Zibeba so echt wie unübersehbar war. Sadat war es übrigens, der die ägyptische Verfassung durch ein ganz entscheidendes Wort veränderte, nachdem nämlich Koran und Scharia nicht eine, sondern die Quelle des ägyptischen Rechts seien. Man möge sich den weltweiten Aufschrei vorstellen, wenn Mursi etwas Ähnliches verfügen würde. Das wird er freilich kaum tun. Wer allerdings glaubt, dass die drei genannten Punkte nur eine große Show waren, um den Westen ruhigzustellen, der könnte nicht falscher liegen. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits spielt der Westen in Mursis außenpolitischer Strategie eine eher untergeordnete Rolle, andererseits lohnt es sich, die Hintergründe der drei spektakulären Entscheidungen genauer zu betrachten.

Tantawis Sturz war ein Geniestreich, der allerdings direkt mit dem Grenzzwischenfall im Sinai zusammenhängt, bei dem 16 ägyptische Soldaten ums Leben kamen. Für Ägypten ganz besonders peinlich: ausgerechnet die Israelis – denen einige Hardliner den Zwischenfall in die Schuhe schieben wollten – haben die ägyptischen Militärs vor dem Anschlag gewarnt. Passiert ist offenbar nichts. Kurze Zeit erregten sich die Ägypter darüber, dass Mursi nicht einmal zur Beerdingung der 16 Soldaten kam. Was wie eine unfassbare Stoffeligkeit aussah, entpuppte sich bald als gerissener Winkelzug. Dadurch, dass Tantawi alleine bei der Trauerfeier erschien, wurde der Blick auf ihn und dadurch auch auf die Frage nach der Verantwortung gerichtet – die Mursi wenige Tage später auf sehr eindrückliche Art beantwortet hatte. Nicht einmal in der Armeefühung erhob sich auch nur noch ein Finger für Tantawi. Offiziell machte Mursi ihn zu seinem Berater, verlieh ihm einen Orden und verabschiedete ihn mit allen Ehren. So elegant wurde noch selten der eigentliche Führer eines Landes aufs Abstellgleis geschoben.

Freie Bahn also für die Islamisten? Noch vor zwei Wochen gab es Befürchtungen, dass die Demonstrationen gegen die Macht der Moslembrüder am 24. August zu blutigen Ausschreitungen führen könnten, zumal ein Imam oppositionelle Demonstranten buchstäblich zum Abschuss freigegeben hatte. Es blieb bei den Demonstrationen gegen die Moslembrüder erstaunlich ruhig. Nicht nur das. Kurz zuvor hatte Mursi per Dekret verfügt, dass der Journalist Islam Affifi aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei, in die er nur Stunden zuvor gesperrt worden war. Mursi ging sogar noch weiter und verbot in Zukunft jede Untersuchungshaft für regierungskritische Journalisten. Mursi-Kritiker monieren allerdings, dass der Prozess gegen Affifi und andere fortgesetzt werde.

Und dann war da noch die Reise zu den Blockfreien nach Teheran. Der Westen geriet schon in Schnappatmung bei dem Gedanken daran, dass Mursi dem Teufels-Perser Achmadinedschad die Hand geben könnte. Eine mögliche Koalition des Moslembruders mit den radikalislamischen Jüngern Chomenis wurde da an die Wand gemalt. Mursi dürfe auf keinen Fall nach Theran zum Vollversammlung der Blockfreien reisen – dessen Präsidentschaft Muris übrigens turnusgemäß übernahm. Mursi reiste, gab seinem „lieben Bruder“ ordentlich das Pfötchen – und watschte die Gastgeber wegen ihrer Syrienpolitik dann dermaßen ab, dass das iranische Staatsfernsehen in der Simultanübersetzung das Wort Syrien konsequent durch das Wort Bahrain ersetze, was in Bahrain wiederum zu Entsetzen führte. Das alles wäre dem Westen erspart geblieben, wenn Mursi nicht nach Theran gefahren wäre. Tja – hinterher ist man immer schlauer, zumal ganz offenbar bei Mohammed Mursi.

Aber das alles sind ja noch keine stichhaltigen Gründe dafür, dass er sein Land nicht zu einem islamistischen Gottesstaat machen will. Doch die Beispiele zeigen zumindest, dass Mursi ein ganz gewiefter Taktiker und offensichtlich ein ziemlich schlauer Fuchs ist. Dass eine seiner wichtigsten Aufgaben sein wird, das Land und seine Menschen zu einen, musste ihm niemand sagen. Er tut es auf eine interessante Art und Weise. Er fördert ganz offensichtlich den ägyptischen Nationalismus. Da gleicht er dann doch eher einem Gamal Abdel Nasser als einem Ajathollah Chomeni. Mit der Forderung nach Ägyptens Stärke und einer Führungsrolle in der Arabischen Welt kann Mursi über alle Parteigrenzen Punkte machen.

95 Prozent Ägyptens besteht aus Wüste.
Foto: psk

Und dann? Von nationalistischen Parolen oder Taten wird die Versorgungslage nicht besser, ändert sich nichts im Bildungssystem und auch das Gesundheitssystem gesundet davon nicht. Das vielleicht größte Problem überhaupt ist die nach wie vor explosionsartig wachsende Bevölkerung. Offziell wird noch immer von 80 Millionen Ägyptern gesprochen. Vor kurzem postete der in Kairo wirkende katholische Geistliche Msgr. Joachim Schroedel eine ganz andere Zahl. Und die wird ja einem Mohammed Mursi auch nicht verborgen bleiben. 91 Millionen Ägypter, davon leben 83 Millionen im Land – in einem Land, das zu 95 Prozent aus Wüste besteht. Ägypten, einst die Kornkammer des Römischen Reiches – kann seine Bürger nicht mehr selbst ernähren. Der Energieverbrauch liegt etwas 20 Prozent über dem, was Ägypten selbst produziert. Selbst wenn es zu einer wirtschaftlichen Gesundung kommt, frißt das Bevölkerungswachstum die Früchte sofort wieder weg.

Natürlich weiß das ein Mohammed Mursi auch. So fromm und konservativ er auch sein mag – er scheint einen sehr analytischen Verstand zu haben. Eine streng konservativ-islamische Sozialstruktur ist mit dem Ziel, das Bevölkerungswachstum zu beschränken, schlechterdings unvereinbar. Eines hat die Geschichte gezeigt: Gegen eine Bevölkerungsexplosion helfen weder Ein-Kind-Politik noch Kondome oder fromme Worte. Nur eine nachhaltige Steigerung des Lebensstandards für die große Masse der Bevölkerung wird das Wachstum eindämmen können. Dazu braucht Mursi aber alle Ägypter und nicht nur die Moslembrüder. Und über alle Religionsgrenzen hinweg gilt ja auch eines: Weder der Koran noch die Bibel haben ein Rezept gegen diese Bedrohung. Deshalb heißt es wohl zusammenzuarbeiten.