Ein Blick in die Zukunft?

Zweieinhalb Wochen dauerte meine Juni-Reise nach Ägypten. El Qesir, Sagafa und Hurghada waren die Stationen. Und ich erlebte Erstaunliches. Vorab zunächst das Fazit: Die Stimmung hat sich deutlich verbessert. Vor allem im Süden sind manche Hotels schon fast wieder voll. Dass auch wieder Gäste ins Land kommen, die Ägypten zum ersten Mal besuchen, spüren unter anderem die Tauchbasen. Sie verzeichenen einen deutlichen Anstieg von Kursen, ein wichtiges Geschäft, das in den letzten Monaten praktisch komplett weggebrochen ist.

Und die Ägypter? Viele von ihnen entwickeln offensichtlich einen wahren Bekennerdrang, sich zur politischen Lage zu äußern. Ich bin noch nie so oft von Ägyptern ungefragt in politische Diskussionen verstrickt worden. War bislang die am häufigsten gestellte Frage in einem Taxi „Where do you come from?“ wurde ich dieses Mal von der überwiegenden Mehrzahl der Fahrer mit der Frage konfroniert, was ich von Präsident Sisi halte. Ich antwortete stets ausweichend: Ich wisse es nicht so genau, ich hätte ihn ja noch nie reden hören oder bei öffentlichen Auftritten gesehen. Und das war dann der Startschuss zu ausschweifenden Lobeshymnen.

Zwei Dinge scheinen die Ägypter ganz besonders zu freuen: Er hat alle Staatsbediensteten dazu verdonnert, morgens um sieben an ihren Schreibtischen zu sitzen. Und dann findet er, dass seine Landsleute mehr Radfahren sollten und hat sie zu einer gemeinsamen Radtour eingeladen. Oder die Geschichte mit dem subventionierten Essen für die Armen. Zum ersten Mal wird da der Speiseplan um Fleisch bereichert. Das kommt bei den überwiegend frommen Ägyptern gut an. Die frommen Moslembrüder kamen nicht auf diese Idee. Außerdem hat er versprochen mehr Strom zu produzieren. Das scheint dringend nötig. Gestern fiel während meiner Wartezeit auf dem Flughafen gleich drei Mal der Strom aus.

Auf der Fahrt dorthin dachte ich schon, ich hätte endlich den ersten Sisi-Kritiker am Steuer. Der junge Mann mit den tiefen Ringen unter den Augen sah ganz melancholisch aus. In der Schlange vor dem Kassenhäuschen an der Flughafenzufahrt begann er plötzlich auf die Regierung zu schimpfen. Ich fragte zögernd, ob er damit die Stadt, die Region oder das Land allgemein meine. Nein, alle, alle seien sie ganz schrecklich. „Aber mit Präsident Sisi wird das jetzt alles anders.“

Das ist nun die eine Seite, die andere ist die mehr als bedauerliche Tatsache, dass während meines Aufenthaltes einige Journalisten von Al-Dschasira zu ganz drakonischen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hat das alles wenig zu tun. Doch es scheint so, dass der überwiegende Teil der Ägypter diese Urteile ganz okay findet – wie im übrigen auch die Todesurteile von El Minja. Und genau da tut sich eine Diskrepanz auf, die jeden aufrechten Demokraten sehr schmerzen muss.

Die Parlamentswahlen von 2012 ergaben bei einer Wahlbeteiligung von weit unter 50 Prozent eine Mehrheit von rund 70 Prozent für islamistische Parteien. Hinzu kamen 10 Prozent für koptische Parteien. Das heißt, 80 Prozent der Ägypter haben damals religiös motiviert abgestimmt. 20 Prozent gingen an säkulare, demokratische Parteien. Setzt man diese Zahl noch mit Nichtwählern in Bezug, dann kann sich die Demokratie, oder das, was wir im Westen dafür halten, gerade mal auf zehn Prozent der wahlberechtrigten Ägypter stützen. Nun ist ja eine Demokratie letztlich auch nur eine Diktatur – eine Diktatur, in der die Mehrheit bestimmt, wo es lang geht. Das, was wir als freiheitlich und rechtsstaatlich verstehen, ist ja nur der Versuch, diese Diktatur der Majorität durch Konsensentscheidungen und Minderheitenschutz ein wenig humaner zu gestalten.

Präsident Abdel Fatah al-Sisi: Ist er die Medizin, die Ägypten jetzt braucht? Viele seiner Landsleute sind davon überzeugt. Foto: psk

Präsident Abdel Fatah al-Sisi: Ist er die Medizin, die Ägypten jetzt braucht? Viele seiner Landsleute sind davon überzeugt. Foto: psk

Zu Freiheit und Demokratie gehört zwangsläufig eine freie Presse. Nun haben es die Ägypter ja mit der Demokratie versucht, mit dem Resultat, dass dabei ein Regime herauskam, das im Begriff war, einen islamofaschistoiden Staat zu errichten. Dass die freie Presse nach dem grandiosen Scheitern Mursis auch noch besserwisserisch kommentierte, sie hätten doch diesen Mursi selbst gewählt und müssten ihn nun mal ertragen, hat so manche Ägypter verbittert. Wie so vieles, was dieser Tage vor ägyptischen Gerichten passiert, hat auch dieses Urteil eher symbolischen als juristischen Charakter (ich glaube weder, dass die Reporter sieben Jahre im Knast bleiben, noch dass die Todesurteile vollstreckt werden). Es ist ein Ausdruck dafür, dass sich Ägypten von ausländischen Medien missverstanden und ungerecht behandelt fühlt. Da war das „CNN des Ostens“ das ideale Objekt um, ein Exempel zu statuieren. Doch so manche Tränen, die westliche Journalisten um ihre Kollegen von Al Dschasira vergießen, sind bestenfalls Krokodilstränen. Nach meinem Dafürhalten wird über Ägypten in allen wichtigen Medien seit über einem jahr nicht mehr fair berichtet. Büßen mussten das jetzt die Al-Dschasira-Leute mit absolut inakzeptablen Strafen.

Letzte Woche war ich in einer Strandbar in Sekalla, wo kaum Touristen hinkommen. Da kommen etwa 15 Teenager herein, alle zwischen 12 und 18, um einen Geburtstag zu feiern, die Hälfte Jungs, die Hälfte Mädchen. Keine von ihnen trug ein Kopftuch oder gar einen Schleier, dafür die meisten eher knappe Röcke. Ein DJ legte Techno-Mucke auf und die Kids hatten offenbar einen Riesenspaß. Irgendwann kam die mutmaßliche Mutter. Smaragdgrünes Gewand, der passende Schleier und sie strahlte wie ein Sonnenschein.

Vor einem Jahr wäre das – selbst in Hurghada – undenkbar gewesen. Da hätten die – frei gewählten(!) – fusselbärtigen Tugendwächter von „Freiheit und Gerechtigkeit“ oder „El Nur“ schon vor der Bar gewartet und den Jugendlichen mal so eine richtige Abreibung verpasst.

So, liebe Freunde, jetzt gewinnt mal diese Jungs und Mädels für die Demokratie zurück. Aber wenn dieses kleine Geburtstagsfest ein Blick in Ägyptens Zukunft war, dann ist sie vielleicht unbeschwerter, als wir das alle heute noch ahnen.

Wer die Wahl hat

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob er mich nicht einfach nur testen wollte. Jedenfalls fragte mich mein Fahrer am Samstagabend, ob und was er denn wählen solle. Das wunderte mich schon ein wenig, denn in den letzten zehn Tagen hatte ich ihn nicht nur als überaus pünktlich, sondern auch als recht reflektiert kennengelernt. Mursi hält er für übel, und wenn es einer richten kann, dann wird es wohl Abdel Fatah al Sisi sein. So denken viele Ägypter, vor allem an der Küste, wo seit nun drei Jahren die Touristen fehlen.

Ich antwortete dem Fahrer, dass es ganz wichtig sei zu wählen, schon deshalb, weil dieses Mal die Reihenfolge richtig sei: Erst eine Abstimmung über die Verfassung und dann erst die Wahl des Parlaments. Diese Einschätzung nahm er nachgerade begeistert auf und versprach natürlich, wählen zu gehen – und für die Verfassung zu stimmen.

Hätte die richtige Reihenfolge etwas an dem Ablauf der Geschichte geändert? Ich glaube schon. Dadurch, dass vor zwei Jahren ein Parlament gewählt wurde, das anschließend eine Verfassung verabschieden sollte, konnten sich die Islamisten ihre Konstitution praktisch zurechtzimmern. Eine bereits bestehende Verfassung hätte Moslembrüder und Salafisten möglicherweise Zügel anlegen können.  Nun haben alle gesellschaftlich relevanten Gruppen mit Hand angelegt, um eine neues Grundgesetz zu entwerfen. Es ist nun deutlich demokratischer, weniger auf Religion zugeschnitten und gewährt Minderheiten mehr Schutz und Rechte. Der berühmt-berüchtigte Paragraph 2, der schon unter Anwar al Sadat in »Koran und Scharia sind die Quelle des ägyptischen Rechts« geändert wurde, wurde wieder auf die Nasser-Zeit zurückgefahren, als nur von »einer Quelle des ägyptischen Rechts« die Rede war.

Positiv ist sicher auch zu bewerten, dass die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränkt ist. Eine Dauerherrschaft wie die von Hosni Mubarak sollte also nicht mehr drohen.

Insgesamt wird die Verfassung auch im stets kritischen Westen als demokratischer Fortschritt gewertet. Allerdings gibt’s da ja noch die Passagen, die das Militär stärken. Da hat sich jedoch auch nicht so viel geändert. Das Militär bestimmt selbst den Verteidigungsminister, was allerdings nichts Neues ist. Es bleibt auch dabei, dass der Vertedigungshaushalt geheim bleibt und weder Parlament noch Regierung reinreden können. Neu sind allerdings die Militärtribunale, die nun auch Zivilisten aburteilen können, und das ist dann doch ein herber Wermutstropfen in einer sonst sehr demokratisch anmutenden Verfassung.

Es steht wohl außer Zweifel, dass die Verfassung angenommen wird. Manche rechnen sogar mit einer Zustimmungsrate von 80 Prozent. Soviele werden es vielleicht nicht werden. Problematisch ist vielmehr die Wahlbeteiligung. Bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gingen gerade einmal rund 40 Prozent der Ägypter an die Wahlurnen. Wären es bei der Verfassungsabstimmung wieder weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, wäre dies eine herbe Niederlage für die Übergangsregierung, den »Rat der 50«, der die Verfassung ausgearbeitet hat, und vor allem für den starken Mann al Sisi.

Die Auslandsägypter haben bereits abgestimmt und stehen zu etwa 90 Prozent hinter der neuen Verfassung. Allerdings haben nur rund 20 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Ob sich das auf das ganze Land übertragen lässt, ist jedoch fraglich.

Doch egal, wie das Referendum ausgeht, eines ist jedenfalls sicher: Die Ägypter haben sich eine neue Verfassung gegeben, und sie stimmen darüber ab. Das haben nach den Wochen im Sommer viele Kritiker bezweifelt. Schade ist allerdings, dass sich der »Rat der 50« nicht mehr Zeit nehmen konnte. Die USA lebten immerhin elf Jahre ohne ihre Constitution. Die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes hatten mehr als ein halbes Jahr Zeit. Dass ausgerechnet diese beiden Länder Ägypten in Sachen Verfassung zur Eile mahnten, ist dann schon ein wenig seltsam.

Das Referendum über die neue Verfassung wird ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratie sein. Wie groß dieser Schritt sein wird, das hängt jetzt davon ab, wieviele Menschen in die Wahllokale gehen. Rund 50 Millionen Ägypter sind wahlberechtigt. Anfang Juli gingen angeblich 30 Millionen auf die Straße, um gegen Mursi zu demonstrieren. Wenn die jetzt alle wählen gingen, läge die Wahlbeteiligung bei 60 Prozent. Und damit könnten sie in Ägypten schon ganz gut leben.

Nimmt das kein Ende?

TAL DER KÖNIGE: mittags um drei, absolut menschenleer.   Foto: psk

TAL DER KÖNIGE: mittags um drei, absolut menschenleer. Foto: psk

Das ägyptische Fremdenverkehrsamt hatte deutsche Journalisten zu einer Pressereise eingeladen, in der Hoffnung jetzt auch mal wieder positive Schlagzeilen zu erzeugen. Am Mittwoch kam die Gruppe zurück, mit sehr unterschiedlichen Eindrücken. In der Tat ist es schon ziemlich erschütternd, vor einem völlig menschenleeren Tal der Könige zu stehen. Immerhin keimte Hoffnung auf in diesen Tagen. Die Reisewarnung war erheblich entschärft worden. Selbst Europas größter Reiseanbieter TUI hatte sich als letzter entschlossen, nun doch wieder Reisen nach Ägypten anzubieten. Und nun das: Über 50 Tote bei Straßenschlachten in Kairo und in anderen Städten.

Die Frage stellt sich automatisch: Warum gerade jetzt? Vorab: Mit der entschärften Reisewarnung und der möglichen Rückkehr der Touristen haben die Ausschreitungen gar nichts zu tun. Der 6. Oktober ist ein sehr symbolträchtiger Tag. Es ist der Nationalfeiertag, an dem des (vermeintlichen) Sieges über die Israelis gedacht wird. Der Ausbruch des Ramadan-Krieges (oder wie er bei uns heißt: Jom-Kippur-Krieg) jährte sich gestern zum 40. Mal. Es war völlig klar, dass die Moslembrüder an diesem Tag ihre Macht zeigen würden. Das Problem ist nur, dass sie nichts mehr zu zeigen haben. Wieder hatten sie von Millionen schwadroniert, die für Mursis Freilassung auf die Straße gehen würden. Ein paar wenige Tausend sind es geworden. Das hat im übrigen jetzt auch die ARD begriffen. Wenn es so wenig Demonstranten und vergleichsweise soviele Tote gab, liegt der Gedanke an brutale Polizeigewalt immer nahe. Doch hier gilt es eines zu bedenken. Die Moslembrüder haben sich in den letzten Monaten immer stärker auf ihren Gründer Hasan al-Bana besonnen, der seinen Anhängern ins Stammbuch schrieb, dass sie nicht so am Leben hängen, sondern lieber für Allah und den Islam sterben sollten. Seine Schrift: „Die Todesindustrie“ begründete den modernen islamistischen Terror. Wenn man in den letzten Wochen die Ansprachen der MB-Führer wie Mohammed Badi’e (der inzwischen im Knast sitzt) gehört hat, dann war es genau die Sprache Hasan al Banas. Die, die jetzt noch den Aufrufen zu Demonstrationen der Moslembrüder folgen, sind nun wirklich der harte Kern, die an alles glauben, auch daran, dass es ganz besonders ehrenvoll ist, auf dem Pflaster von Kairo in seinem Blut für Mursi zu verrecken. Wenn die Moslembrüder überhaupt noch über so etwas wie Macht verfügen, dann ist es das Body-Counting nach den Demonstrationen.

Heute morgen haben die MB schrill eine internationale Untersuchung der Straßenschlachten gefordert. Nehmen wir mal an, die momentane Regierung würde sagen: Ja, tolle Idee, das machen wir. Was würde dann passieren? Die Moslembrüder würden sofort krakelen, dass dies eine unerhörte Einmischung in innere Angelegenheiten sei und dass die Regierung das Land an ausländische Agenten verkauft habe. Es folgten wieder blutige Ausschreitungen.

Es gibt noch immer Menschen, auch und gerade in Deutschland, die es für eine schreiende demokratische Ungerechtigkeit halten, dass den Moslembrüdern mit Gewalt die Macht entrissen wurde. Nun ja, in Deutschland werden die Moslembrüder auch nicht gerade als lupenreine Demokraten betrachtet. 1.800 zählte man in Deutschland 2005. Und deren Gedankengut sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, sagt der Verfassungsschutz.

Dass die Moslembrüder in Ägypten als Organisation verboten worden sind, ist letztlich nur folgerichtig. Jede Gruppierung die in Deutschland solche Hetze betreibt, wird ebenfalls ganz schnell verboten. Im übrigen: Die Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“, also die Partei der Moslembrüder, ist nach wie vor erlaubt. Sie wird mit Sicherheit auch bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr antreten und vermutlich sogar zwischen zehn und 20 Prozent der Stimmen einsammeln.

Trotzdem sollte der Spuk mit den Moslembrüdern jetzt bald vorbei sein. Spätestens nach der Besetzung der Moschee am Ramsesplatz, als Bewaffnete von den Minaretten wahllos in die Mensche schossen, haben die Brüder auch enorm viel Sympathien bei ihren konservativen Anhängern in Oberägypten verloren. So etwas tut ein anständiger Moslem nicht.

Die Unruhen und die Toten von gestern werden nicht die letzten gewesen sein. Doch es werden immer weniger werden. Ägypten wird zur Ruhe kommen, die das Land jetzt so dringend zum Neuanfang braucht. Mancher fürchtet nun eine Militärdiktatur. Tatsächlich gibt es Anzeichen, die nichts Gutes verheißen, andererseits macht die jetztige Regierung auch sehr viel richtig. Dass die Verfassungsgebende Versammlung nun ihr Werk vor den Parlamentswahlen beendet und es eine Verfassung vor dem Urnengang geben soll, ist sicher sehr vernünftig. Der Weg zur Demokratie ist sicher noch lang und steinig, aber zumindest scheint die Richtung jetzt erst einmal zu stimmen.

Doch auch, wenn die Pessimisten Recht behalten sollten und Ägypten zu einer Militärdiktatur werden sollte, dann dürfte die, aufgrund der im Grunde zivilen Struktur der Armee, eher milde als brutal ausfallen. Jedenfalls wäre sie das deutlich kleinere Übel, als ein faschistoider Staat, den die Moslembrüder im Begriff waren zu errichten.

Sissi soll’s richten?

Für mich gehört zu den erschütterndsten Folgen der Revolution in Ägypten, dass es nun ausgewiesene Demokraten sind, die laut einen Militärputsch herbeirufen. Wie verzweifelt müssen die einstigen Revolutionäre sein, wenn sie Freiheit und Demokratie auf diese Art und Weise beerdigen? Allerdings darf der europäische Beobachter dabei eines auch nicht außer acht lassen: Das Militär genießt in Ägypten ein überaus hohes Ansehen. Im Gegensatz übrigens zu Polizei und Sicherheitskräften. Daran änderte sich auch nichts, als der Oberste Militärrat vor einem Jahr dann doch recht kläglich an der stets ungeliebten Regierungsverantwortung scheiterte.

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit.                 Foto: psk

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit. Foto: psk

Vor einem Jahr dann ereignete sich Erstaunliches. Mohammed Mursi stürzte den Militärrat und seinen Chef, Feldmarschall Tantawi. Ob das ein genialer Schachzugs Mursis war, oder doch nur ein abgekartetes Spiel, darüber wird heute noch trefflich gestritten. Allerdings gibt es aus der heutigen Sicht nur noch ganz wenige, die Mursi einen solchen Geniestreich zutrauen. Entweder war er damals gut beraten, oder Tantawis Rausschmiss war das berühmte Korn, das auch mal ein blindes Huhn findet.

Sein Nachfolger heißt Sissi – ja, er heißt so und nun keine Witze mit Namen bitte – und der hat sich bislang stets zurückgehalten. Nun ist er ja nicht gerade ein Mann der Opposition. Aber seine Äußerungen in der Vergangenheit klangen nachgerade demokratietragend. Ein Eingreifen der Armee würde Ägypten in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. So war es im Handelsblatt zu lesen. Mann kann es aber auch so interpretieren, dass er meinte: „Hände weg von den Moslembrüdern.“ Die haben das allerdings schon alleine geschafft. Wahrscheinlich gelang es in der bisherigen Weltgeschichte nur den Roten Khmern, ihr Land nach der Machtübernahme noch schneller herunterzuwirtschaften.

Inzwischen klingt Armeechef Abdel-Fattah al-Sissi auch ein wenig anders. Er warnte nun, dass das Militär notfalls doch eingreifen werde, wenn Ägypten, in einem „dunklen Tunnel“ zu versinken drohe, berichtet der Zürcher Tagesanzeiger. Vorausgegangen waren Drohungen von Mursi-Anhängern, Demonstranten am 30. Juni bei der geplanten Großdemonstration totzuschlagen. Morddrohungen gegen die Opposition aus dem islamistischen Lager sind inzwischen freilich an der Tagesordnung.

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich das Militär erstmals so eindeutig positioniert hat. Es zeigt, dass die Moslembrüder ganz rasant auch an Ansehen verlieren. Und es zeigt weiter, dass es das Militär seinerseits mit der Angst zu tun bekommt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das die große wirtschaftliche Macht: 40 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von Militärunternehmen erwirtschaftet. So, wie die Wirtschaft im letzten Jahr zusammenkrachte, geht es der Armee inzwischen richtig ans Eingemachte. Zum anderen fürchten die Militärs auch um ihre Popularität im Volk. Es ist ja nicht so, dass von den rund 47 Prozent, die die Brüder gewählt hatten, die meisten Mord und Totschlag befürworten. Im Gegenteil.

Und dann gibt’s da noch eine andere Meldung, die al-Sissi wohl bestätigen dürfte. Südlich von Kairo wurden jetzt erstmals vier Schiiten von einem 3000-köpfigen Mob umgebracht. Es waren mal wieder Salafisten-Prediger, die offen zu Gewalt an etwa 40 Schiiten aufgerufen hatten. Im Parlament machen die Moslembrüder, aller heiligen Eide zum Trotz, seit einem Jahr gemeinsame Sache mit der Partei „El Nur“, dem politischen Flügel der Salafisten. Die haben nun nicht mehr nur christliche Kopten, sondern auch andersgläubige Moslems im Visier. Das könnte die Geduld der Mehrheit der Ägypter so langsam überstrapazieren

Ob der 30. Juni, wie viele Oppositionelle hoffen, der Auftakt zur „Zweiten Revolution“ sein wird, daran habe ich meine Zweifel. Aber die Anzeichen auf einen Zerfall der Mursi-Ära werden immer deutlicher. Das sehen offensichlich auch andere so. Vor knapp einer Woche beklagte ich noch, wie rasant das Ägyptische Pfund auseinander bricht. Da bekam man für einen Euro neun Pfund und 36 Piaster. Heute sind es neun Pfund und 18 Piaster. Man muss sich auch an kleinen Dingen freuen können.

Warum Ägypten kein islamistischer Gottesstaat wird

Was den neuen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi betrifft, war ich lange Zeit hin und her gerissen. Ich fragte mich, ob der neue Präsident ein Vollidiot oder vielleicht doch ein begnadeter Politiker ist. Ersteres stimmt offensichlich nicht, zweiteres steht noch aus. Allerdings hat Mursi in den letzten vier Wochen mit drei Aktionen überrascht:

  1. Er hat mit einem Handstreich den Militärrat entmachtet und dessen Vorsitzenden Mohammed Tantawi kaltgestellt.
  2. Er hat einen moslembrüder-kritische Journalisten aus dem Knast geholt, der dort in U-Haft wegen des Verdachts der Präsidentenbeleidigung saß.
  3. Er hat Irans Präsident Achmadinedschad während er Konferenz der Blockfreien in Teheran brüskiert und isoliert.

Seine Kritiker sind einigermaßen verblüfft. Doch ihre Gegenargumente beruhen derzeit nur auf Mutmaßungen und Aussagen aus Mursis Vergangenheit, konkret im Wahlkampf. Zumindest seine bisherigen Taten sprechen eine andere Sprache. Grundsätzlich gilt wohl eines: Obwohl Mursi offiziell die Moslembrüder verlassen hat, bleibt er natürlich ein frommer und wohl auch sehr konservativer Moslem – was im Übrigen der im Westen so hochverehrte Anwar al Sadat auch war, dessen Zibeba so echt wie unübersehbar war. Sadat war es übrigens, der die ägyptische Verfassung durch ein ganz entscheidendes Wort veränderte, nachdem nämlich Koran und Scharia nicht eine, sondern die Quelle des ägyptischen Rechts seien. Man möge sich den weltweiten Aufschrei vorstellen, wenn Mursi etwas Ähnliches verfügen würde. Das wird er freilich kaum tun. Wer allerdings glaubt, dass die drei genannten Punkte nur eine große Show waren, um den Westen ruhigzustellen, der könnte nicht falscher liegen. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits spielt der Westen in Mursis außenpolitischer Strategie eine eher untergeordnete Rolle, andererseits lohnt es sich, die Hintergründe der drei spektakulären Entscheidungen genauer zu betrachten.

Tantawis Sturz war ein Geniestreich, der allerdings direkt mit dem Grenzzwischenfall im Sinai zusammenhängt, bei dem 16 ägyptische Soldaten ums Leben kamen. Für Ägypten ganz besonders peinlich: ausgerechnet die Israelis – denen einige Hardliner den Zwischenfall in die Schuhe schieben wollten – haben die ägyptischen Militärs vor dem Anschlag gewarnt. Passiert ist offenbar nichts. Kurze Zeit erregten sich die Ägypter darüber, dass Mursi nicht einmal zur Beerdingung der 16 Soldaten kam. Was wie eine unfassbare Stoffeligkeit aussah, entpuppte sich bald als gerissener Winkelzug. Dadurch, dass Tantawi alleine bei der Trauerfeier erschien, wurde der Blick auf ihn und dadurch auch auf die Frage nach der Verantwortung gerichtet – die Mursi wenige Tage später auf sehr eindrückliche Art beantwortet hatte. Nicht einmal in der Armeefühung erhob sich auch nur noch ein Finger für Tantawi. Offiziell machte Mursi ihn zu seinem Berater, verlieh ihm einen Orden und verabschiedete ihn mit allen Ehren. So elegant wurde noch selten der eigentliche Führer eines Landes aufs Abstellgleis geschoben.

Freie Bahn also für die Islamisten? Noch vor zwei Wochen gab es Befürchtungen, dass die Demonstrationen gegen die Macht der Moslembrüder am 24. August zu blutigen Ausschreitungen führen könnten, zumal ein Imam oppositionelle Demonstranten buchstäblich zum Abschuss freigegeben hatte. Es blieb bei den Demonstrationen gegen die Moslembrüder erstaunlich ruhig. Nicht nur das. Kurz zuvor hatte Mursi per Dekret verfügt, dass der Journalist Islam Affifi aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei, in die er nur Stunden zuvor gesperrt worden war. Mursi ging sogar noch weiter und verbot in Zukunft jede Untersuchungshaft für regierungskritische Journalisten. Mursi-Kritiker monieren allerdings, dass der Prozess gegen Affifi und andere fortgesetzt werde.

Und dann war da noch die Reise zu den Blockfreien nach Teheran. Der Westen geriet schon in Schnappatmung bei dem Gedanken daran, dass Mursi dem Teufels-Perser Achmadinedschad die Hand geben könnte. Eine mögliche Koalition des Moslembruders mit den radikalislamischen Jüngern Chomenis wurde da an die Wand gemalt. Mursi dürfe auf keinen Fall nach Theran zum Vollversammlung der Blockfreien reisen – dessen Präsidentschaft Muris übrigens turnusgemäß übernahm. Mursi reiste, gab seinem „lieben Bruder“ ordentlich das Pfötchen – und watschte die Gastgeber wegen ihrer Syrienpolitik dann dermaßen ab, dass das iranische Staatsfernsehen in der Simultanübersetzung das Wort Syrien konsequent durch das Wort Bahrain ersetze, was in Bahrain wiederum zu Entsetzen führte. Das alles wäre dem Westen erspart geblieben, wenn Mursi nicht nach Theran gefahren wäre. Tja – hinterher ist man immer schlauer, zumal ganz offenbar bei Mohammed Mursi.

Aber das alles sind ja noch keine stichhaltigen Gründe dafür, dass er sein Land nicht zu einem islamistischen Gottesstaat machen will. Doch die Beispiele zeigen zumindest, dass Mursi ein ganz gewiefter Taktiker und offensichtlich ein ziemlich schlauer Fuchs ist. Dass eine seiner wichtigsten Aufgaben sein wird, das Land und seine Menschen zu einen, musste ihm niemand sagen. Er tut es auf eine interessante Art und Weise. Er fördert ganz offensichtlich den ägyptischen Nationalismus. Da gleicht er dann doch eher einem Gamal Abdel Nasser als einem Ajathollah Chomeni. Mit der Forderung nach Ägyptens Stärke und einer Führungsrolle in der Arabischen Welt kann Mursi über alle Parteigrenzen Punkte machen.

95 Prozent Ägyptens besteht aus Wüste.
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Und dann? Von nationalistischen Parolen oder Taten wird die Versorgungslage nicht besser, ändert sich nichts im Bildungssystem und auch das Gesundheitssystem gesundet davon nicht. Das vielleicht größte Problem überhaupt ist die nach wie vor explosionsartig wachsende Bevölkerung. Offziell wird noch immer von 80 Millionen Ägyptern gesprochen. Vor kurzem postete der in Kairo wirkende katholische Geistliche Msgr. Joachim Schroedel eine ganz andere Zahl. Und die wird ja einem Mohammed Mursi auch nicht verborgen bleiben. 91 Millionen Ägypter, davon leben 83 Millionen im Land – in einem Land, das zu 95 Prozent aus Wüste besteht. Ägypten, einst die Kornkammer des Römischen Reiches – kann seine Bürger nicht mehr selbst ernähren. Der Energieverbrauch liegt etwas 20 Prozent über dem, was Ägypten selbst produziert. Selbst wenn es zu einer wirtschaftlichen Gesundung kommt, frißt das Bevölkerungswachstum die Früchte sofort wieder weg.

Natürlich weiß das ein Mohammed Mursi auch. So fromm und konservativ er auch sein mag – er scheint einen sehr analytischen Verstand zu haben. Eine streng konservativ-islamische Sozialstruktur ist mit dem Ziel, das Bevölkerungswachstum zu beschränken, schlechterdings unvereinbar. Eines hat die Geschichte gezeigt: Gegen eine Bevölkerungsexplosion helfen weder Ein-Kind-Politik noch Kondome oder fromme Worte. Nur eine nachhaltige Steigerung des Lebensstandards für die große Masse der Bevölkerung wird das Wachstum eindämmen können. Dazu braucht Mursi aber alle Ägypter und nicht nur die Moslembrüder. Und über alle Religionsgrenzen hinweg gilt ja auch eines: Weder der Koran noch die Bibel haben ein Rezept gegen diese Bedrohung. Deshalb heißt es wohl zusammenzuarbeiten.

Der Untote

Es ist schon ziemlich krass: Da wird Hosni Mubarak gestern Abend für tot erklärt und der Militärrat erweckt in quasi wieder zum Leben. Das erinnert so ein wenig an die Zeiten in der Sowjetunion, wo man den Tod des Generalsekretärs der KPdSU zunächst auch einmal verschwieg. Allerdings hatte das damals den Sinn, dass sich die KP auf eine Nachfolgeregelung einigen konnte. Aber was soll das jetzt? Mubarak hatte doch nach dem Urteil vor drei Wochen gerade mal noch die Rolle eines Sündenbocks. Und die soll er nun komplett komatös bis zum St. Nimmerleinstag spielen? Spätestens jetzt ist ja klar, was seit Wochen und Tagen offensichtlich ist. Das Militär will die Kontrolle nicht abgeben, die Verantwortung aber nicht übernehmen.

Steht Ägypten vor dem Untergang? Vielleicht ja nicht. Aber dem Land steht das Wasser zumindest bis zum Hals.

Dabei könnte man, wenn man gutwillig wäre, sich alles positiv zurecht drehen. Dass das Verfassungsgericht das Parlament für unzulässig erklärt hat, weil ein Drittel der für Unabhängige bestimmten Sitze ein „Raub“ der Moslembrüder wurde, ist juristisch gesehen richtig und demokratisch vielleicht ein Gewinn. Nur zur Erinnerung: Es ist erst ein paar Wochen her, dass in Schleswig-Holstein der Landtag neu gewählt werden musste, weil das Wahlgesetz nicht der Verfassung entsprochen hat. Allerdings hat nach dem Urteil niemand den Landtag verrammelt. Der Militärrat hat das Parlamentsgebäude immerhin gleich mal versiegeln lassen.

Die Zulassung von Shafik zum zweiten Durchgang bei den Präsidentschaftswahlen sah zwar aus wie ein Kotau vor den Militärs, ist aber nur logisch, wenn dem Parlament die Legitimation abgesprochen wird. Das Gesetz, das Shafik von der Wahl ausgeschlossen hätte, stammte ja eben von diesem Parlament.

Das Verfassungsgericht hat also in beiden Fällen durchaus korrekt entschieden. Doch was dann passierte, ist der eigentliche Staatsstreich. Der Militärrat nutzte beide Entscheidungen aus, um sich wieder die komplette Macht zu sichern. Worum es ihm in Wirklichkeit geht, machte er mit dem Eingriff ins Etatrecht überdeutlich, jenem Recht, das in jeder vernünftigen Demokratie als das „Königsrecht“ gilt. Danach hat keine demokratisch legitimierte Institution das Recht, Einblick in den Militärhaushalt zu nehmen – den das Militär im übrigen selbst bestimmt. Es geht also um den Staat im Staat.

Das bizarre Schauspiel um den sterbenden Pharao ist so verräterisch. Warum wollen die Militärs nicht, dass der 84jährige jetzt endgültig von den Bühne des Lebens abtritt? Offenbar glauben sie ja noch immer, sich hinter ihm und seinen Untaten verstecken zu können. Dabei war Mubarak immer einer der ihren. Er selbst war übrigens auch nicht korrupter als sie – korrupter war wohl nur seine Familie. Wenn sie Mubarak noch länger am Leben erhalten wollen, dann entlarvt das am Ende doch nur ihr eigenes schlechtes Gewissen. Es scheint so, als ob sie meinen, diesen Sündenbock noch nötig zu haben. Und das kann alles sehr lange gehen. Mubaraks gleichalter ewiger Widersacher, der einstige israelische Premier Ariel Scharon liegt seit sechseinhalb Jahren im Koma.

Im Moment scheint mir die Situation in Ägypten wieder einmal sehr verfahren. Angeblich sollen die USA hinter den Kulissen „sanften Druck“ auf die Empfänger von 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe im Jahr ausüben. Das muss allerdings nichts gutes verheißen, denn dieser „sanfte Druck“ hat ja nicht mal den fragwürdigen Prozess gegen den Sohn eines US-amerikanischen Ministers verhindert. Aber es ist ja nicht das erste Mal seit Ausbruch der Revolution, dass Ägypten scheinbar vor unlösbaren Problemen steht.

Eigentlich läge die Lösung auf der Hand. Wenn irgendjemand dem Militär verspricht, dass es seine Nudelfabriken, Mineralwasserabfüllanlagen, seine Tankstellen und Ferienclubs behalten darf, dann wird in Ägypten sofort die blühende Demokratie ausbrechen. Das würde in der Tat einen zweiten Staat im Staat erfordern.

Katastrophe oder Chance?

Als ich vor ein paar Tagen aus Ägypten zurück kam, erklärte ich als profunder Kenner des Landes jedem, wie die Präsidentschaftswahlen ausgehen würden.  „Wahrscheinlich kommen Moussa und Abul Futuh in die Stichwahl. Der eine hat Erfahrung, der andere Charisma. Mursi und Shaffik haben keine Chance, der eine ist zu farblos, der andere nicht vermittelbar.“ Deshalb stehen jetzt Mursi und Shaffik in der Stichwahl. Irgendwie erinnerte mich das fatal an meine Zeit als Sportredakteur, wenn ich am Freitag in einer Vorschau schrieb, warum eine Mannschaft am Samstag gewinnt und ich am Montag erklären musste, warum sie verloren hat.

Die Präsidentschaftswahlen sind seit Monaten ein heiß diskutiertes Thema auch zwischen Thomas (links) und Peter. Foto: syt

Trotzdem war ich ein leidlich ordentlicher Sportredakteur. Trotzdem glaube ich, die Lage in Ägypten auch ganz gut beurteilen zu können – wenn das überhaupt einer kann. Schließlich war ich ja nicht der einzige, der sich geirrt hat. Aber was ich definitiv hätte voraussagen können, waren die Reaktionen auf diesen Wahlausgang. Da ist von Katastrophe die Rede, vom Ende oder gar dem Verrat an der Revolution, von der gescheiterten Demokratiebewegung. Ich gebe zu, ich war im ersten Moment auch ein wenig geschockt, weil ich mir einen anderen Wahlausgang gewünscht hätte. Doch bei näherer Betrachtung ist diese Ausgangslage vielleicht gar nicht mal die schlechteste für das Land – und seinen Weg zu einer wirklich funktionierenden Demokratie. Steile These? Ich versuch es mal zu erklären.

  1. Hätte irgendein Kandidat der Säkularen die Wahlen gewonnen, dann wäre er vermutlich an den überzogenen Erwartungen an ihn ganz schnell zerbrochen. Sollte der Moslembruder Mursi die Wahlen gewinnen, liegen auf ihm ganz andere Erwartungen (die er wohl auch nicht alle zur Zufriedenheit seiner Anhänger erfüllen kann).
  2. Mursi hat etwa 25 Prozent geholt. Bei den Parlamentwahlen hat die Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ aber 47 Prozent erreicht. Mursi hat es also schon mal geschafft, den Stimmenanteil seiner Partei fast zu halbieren.
  3. Wenn Mursi Präsident werden will – Shaffik liegt ja nur zwei oder drei Prozent hinter ihm – wird er Zugeständnisse an die Säkularen und Liberalen machen müssen, sowohl personell, als auch programmatisch.

Das heißt, jetzt muss verhandelt werden. Immerhin – und das scheint ja unbestritten – sind die Ägypter im Handeln große Klasse. Sage niemand, dass es um ein Geschachere geht. Wenn hierzulande eine Wahl gelaufen ist, geht es auch erst nach Schließung der Wahllokale ans Eingemachte. Hier nennt man das Koalitionsverhandlungen. So etwas ähnliches wird es in den nächsten drei Wochen auch in Ägypten geben. Das gehört eben genau so zur Demokratie, wie Wahlkampf und Wahlen. Übrigens ist der Wahlkampf bislang ausgesprochen gut verlaufen, gemessen an den apokalyptischen Vorhersagen.

Ich habe auch schon den Einwand gehört: „Der kann jetzt ja viel versprechen, aber ob er es dann nach der Wahl einhält?“ Nein, in diesem Fall geht es ja um feste Abreden. Wenn Mursi zum Beispiel will, dass Abul Futuh sich für ihn ausspricht, muss er ihm etwas bieten, was Futuhs Anhänger bewegt, Mursi die Stimme zu geben. Wenn er dann sein Versprechen vergisst, ist es gut möglich, dass der der Tahrir relativ schnell wieder relativ rege besucht wird.

Umgekehrt gilt das alles natürlich genauso für Shaffik. Ich persönlich glaube aber eher, dass es auf Mursi hinausläuft. Der muss übrigens den Salafisten gar keine Zusagen machen, denn die haben gar keine andere Wahl als die, ihn zu wählen. Das finde ich persönlich übrigens ziemlich amüsant.

Die Ägypter haben bei dieser Wahl einmal mehr gezeigt, dass sie zu jeder Überraschung fähig sind. Vielleicht gilt das ja auch für den endgültigen Wahlsieger und künftigen Präsidenten des Landes. Anwar al Sadat galt als völlig farbloser, uncharismatischer Kompromisskandidat, als er 1970 die Nachfolge des verstorbenen Gamal Abdel Nasser antrat. Als er elf Jahre später ermordet wurde, war Ägypten nicht mehr dasselbe Land. Vielleicht wählen die Ägypter in drei Wochen den neuen Retter ihres Landes.

Pressekonferenz im Orient

Nun habe ich ja schon die ein oder andere Pressekonferenz in meinem Leben besucht. Aber die heute morgen war schon etwas Außergewöhnliches. Geladen hatte der Verband der Reiseveranstalter Red Sea und – man höre und staune – die Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“. Eigentlich ist die Partei hier im Land und in Europa besser bekannt unter „Moslembrüder“.

Es stimmt schon. Hier handelt es sich im eine islamistische Partei. Die Frage ist jedoch, wie gemäßigt sie inzwischen ist. Aber das soll an dieser Stelle nicht das große Thema sein. Dass sich die Moslembrüder mit dem Touristenverband zu einer Pressekonferenz im Steigenberger Hotel treffen, ist schon mal bemerkenswert genug. Bislang war ich ja bei solchen Terminen ein paar Häppchen und ein wenig Getränke gewohnt. Wenn es etwas Größeres war, gab’s dann schon mal ein paar „Giveaways“ der besonderen Art. In Rottweil war die Jahrespressekonferenz im Milchwerk immer besonders beliebt, weil es da für die Pressevertreter Fruchtjoghurt in rauhen Mengen zum Mitnehmen gab.

Im Steigenberger gab es keinen Fruchtjogurt, dafür im Vorraum so ziemlich alle Köstlichkeiten des Orients, inklusiver zweier Schokoladenbrunnen. Aus dem einen sprudelte weiße, aus dem anderen braune Schokolade. Es war also kein Wunder, dass sich der Beginn der Veranstltung gleich um eine halbe Stunde verzögerte, aber das lag auch daran, dass sich der Gouverneur verspätete, was durchaus üblich und eingepreist ist.

Mazen und Abir - vielen Dank für Eure Hilfe.

Die erste Reihe des großen Saales war für die höhere Geistlichkeit und die lokale Politprominenz reserviert. Alle hatten sie kleine Tischchen mit Erfrischungen vor sich. Auch in der zweiten Reihe gab es Erfrischungstischchen. Sie war für hochrangige Militärs reserviert. Die folgenden Reihen hatten keine Tischchen. Dort saßen Freunde und Angehörige aus Reihe 1 und 2. Etwa in Reihe fünf hatten dann die ersten ägyptischen Journalisten Platz genommen. Danach, mit gebührendem

Abstand, kam der nächste Block mit mehreren Sitzreihen, in denen ausländische, vorwiegend russische Kollegen Platz nahmen. Die Pressekonferenz fand im Rahmen der ägyptisch-russischen Kulturwoche statt. Es gab auch eine Simultan-Übersetzungsanlage – leider nur arabisch-russisch, was mich jetzt nicht unbedingt weiter gebracht hätte. Doch mit Abir hatte ich eine wunderbare und hochkompetente Dolmetscherin an meiner Seite. So konnte ich den wesentlichen Punkten der Veranstaltung gut folgen.

Die wichtigste Erkenntnis: Die Muslimbrüder wollen den bislang vorherrschenden Tourismus nicht nur unangetastet lassen. Sie wollen den Tourismus vielmehr durch neue Produkte (übrigens explizit auch im Bereich Sport!!) weiterentwicklen und planen bis zum Jahr 2016 die Touristenzahlen auf 20 bis 25 Millionen zu steigern. Angesichts von 10 Millionen Urlaubern vor der Revolution scheint mir das ein sehr ehrgeiziges Ziel.

Der Vertreter der ägyptischen Sozialdemokraten forderte, im Tourismus mehr Augenmerk auf die Ökologie zu legen und die Arbeitsbedingungen der im Tourismus beschäftigten nicht außer acht zu lassen. Beonders bemerkenswert aber fand ich die Rede eines Sheiks der Al-Ahsar Universität in Kairo, der mit einem Koranzitat verdeutlichte, dass das Reisen durchaus ein gottgefälliges Werk und der Tourismus daher zu fördern sei.

Alles in allem dauerte die ganze Veranstaltung drei Stunden. Ich habe mir danach ausgemalt, wie Kollegen in Deutschland reagieren würden, wenn sie drei Stunden bei einer Pressekonferenz absitzen müssten. Es war eine sehr amüsante Vorstellung.

Für mich war es eine tolle Erfahrung, und gebracht hat es auch einiges. Nach drei Wochen fruchtbarer und intensiver Arbeit bildete diese PK einen sehr gelungenen Abschluss. Ich bin Mazen Okasha sehr dankbar, dass er mir den Besuch dieser Veranstaltung ermöglicht hat.

Inzwischen sind meine Bordkarten ausgedruckt. Der Flieger nach Deutschland geht morgen Nachmittag um 15.30 Uhr. Doch in Deutschland wartet noch viel Arbeit auf mich.

Das wird natürlich noch nicht das Ende des Blogs „Koulou tamam, Ägypten?“ sein. Ich werde auch weiter über die Entstehung des Buches und vor allem über die Entwicklungen in Ägypten berichten. Spannende Tage liegen vor uns. Am 25. Januar jährt sich der Ausbruch der Revolution zum ersten Mal. Über dem ganzen Land liegt eine gespannte Erwartung. Auch das Urteil über Hosni Mubarak steht noch aus. Wenn es gesprochen ist, wird es sicher auch Reaktionen auf der Straße geben. In diesem Zusammenhang übrigens ein Wort an alle Gegner der Todesstrafe (zu denen ich mich selbstverständlich auch zähle): Es ist zwar nicht ausgemacht, dass Mubarak zum Tode verurteilt wird (der Staatsanwalt hat das gefordert). Allerdings gilt es als ziemlich ausgeschlossen, dass er im Falle eines solchen Spruchs auch hingerichtet wird, denn das gibt die Gesetzeslage gar nicht her. Die sagt nämlich, dass ein über 80jähriger gar nicht hingerichtet werden darf. Ich schätze mal, dass die Ägypter damit weiter sind, als zum Beispiel der US-Bundestaat Texas.