Die Rache des Regimes

Das ist jetzt mal ein Paukenschlag vor den geplanten Wahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament. Das Gericht in El Minya hat in einem Verfahren sagenhafte 529 Todesurteile verkündet. Das klingt sehr nach Willkürherrschaft und der Rache des Regimes. Doch auch hier gilt es wie in vielen anderen Fällen in Ägypten, erst einmal Ruhe zu bewahren und sich genau anzusehen, was da eigentlich passiert ist.

Moschee gegen Justizpalast: In Ägypten ist das eine Auseinandersetzung mit Tradition. Foto: psk

Moschee gegen Justizpalast: In Ägypten ist das eine Auseinandersetzung mit Tradition.
Foto: psk

Um eines vorweg zu schicken: Ich bin natürlich ein eingefleischter Gegner der Todesstrafe, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass solch ein Massenverfahren im Schnelldurchlauf, dazu noch mit solch drakonischen Urteilen, den Maßstäben eines halbwegs fairen Rechtssystems standhalten kann. Ein wenig erinnert das jetzt schon an den Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution. Allerdings gibt es einen gewichtigen Unterschied: Während in Paris die Delinquenten umgehend unter der Guillotine landeten, stehen die Chancen nicht so schlecht, dass alle 529 Verurteilten mit dem Leben davonkommen. Auch die Hooligans von Port Said, von denen über 70 mit der Todesstrafe belegt wurden, werden wohl nicht hingerichtet.

Es geht hier natürlich in erster Linie um Symbolpolitik. Und diejenigen, die nun verurteilt worden sind, sind nicht einfach willkürlich zu Opfern des herrschenden Regimes geworden. Da ist zum Beispiel der stellvertretende Vorsitzende der Moslembrüder Mohammed Badie. Seine Mordaufrufe kursieren heute noch im Internet, und sie galten Demonstranten, die es wagten, gegen den damaligen Präsidenten Mursi auf die Straße zu gehen. Juristisch ist die Frage ja durchaus erlaubt, ob man im Aufruf zum Mord schon die Anstiftung dazu sehen kann – und damit wäre er wie ein Täter zu behandeln. Jedenfalls hat es ja nichts mit Siegerjustiz zu tun, wenn jemand, der zum Mord aufruft, für diesen Aufruf am Ende auch verurteilt wird. Ich spreche hier nur über die Tatsache des Urteils, nicht über das Strafmaß.

Und was ist mit den Verführten, mit jenen, die mit hassverzerrten Fratzen vor jener Polizeistation in El Minya standen und Blut sehen wollten, oder die sehen wollten, wie koptische Christen in ihren Kirchen verbrennen? In einem Facebook-Kommentar habe ich gelesen, dass 529 Menschen verurteilt wurden, weil ein Mensch ermordet worden ist. Der Kommentator findet das unverhältnismäßig. Ja, was ist denn, wenn vier Skinheads einen Obdachlosen aus Mordlust tottreten? Soll dann jeder nur viertellebenslänglich kriegen? Wo verläuft die Grenze zwischen individueller und Kollektivschuld? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, nicht wahr?

Ist das die Rache des Regimes? Das ist eine knifflige Frage. Seit Jahren, schon seit den Zeiten von Mubarak tobte hinter den Kulissen ein Krieg um die Macht im Justizsystem. Brennpunkt dieser Auseinandersetzung war die Al-Ahzar-Universität in Kairo. Ironischerweise galt die theoligische Fakultät immer als vergleichsweise liberal, während die juristische Fakultät ein Hort der Hardcore-Islamisten gewesen sein soll. Immerhin gab es den Versuch der Moslembrüder – schon lange vor dem Sturz Mubaraks – das Justizsystem zu unterwandern und somit quasi durch die Hintertür an die Macht zu kommen. Im Zivilrecht, da wo die Sharia gilt, ist das zum Teil ganz gut gelungen. Das führt dann zu einer fragwürdigen Konkurrenz von weltlichen und religiösen Gerichten. Auch während der Amtszeit von Präsident Mursi trat das deutlich zutage. Mursis größte Gegner saßen in den ägyptischen Gerichten, die seine Ansinnen ein ums andere Mal durchkreuzen konnten. Als Beispiel seien nur die Präsidentendekrete oder die Entlassung des Generalstaatsanwaltes genannt.

Die unterschiedlichen Rechtssysteme hatten bisweilen sehr bizarre Auswüchse. Einer der bekanntesten dürfte die Affäre Abu Said gewesen sein. Der Lireraturwissenschaftler Nasser Hamid Abu Said wurde 1995 von seiner Frau durch ein religöses Gericht zwangsgeschieden, was damals für Aufsehen in der ganzen Welt sorgte.

Im Großen und Ganzen sind die ägyptischen Gerichte zwar besser als ihr Ruf, aber es kommt in Einzelfällen schon immer wieder zu merkwürdigen Urteilen. Aber im Falle der Moslembrüder kann man von einer gewissen Berechenbarkeit ausgehen. Da sind nämlich noch viele, viele Rechnungen aus den vergangenen Jahren offen. Wer jetzt behauptet, dass in den ägyptischen Gerichten ja doch nur die alten Mubarak-Kader sitzen, macht es sich zu einfach. Die ägyptische Justiz ist schon recht selbstbewusst.

Viele Gegner der derzeitigen Übergangsregierung werden behaupten, das Urteil sei im Büro von Generals Sisi verfasst worden. Ich halte das für Blödsinn. Das Urteil ist nicht die Rache des Regimes, sondern eher die der Justiz, die sich ganz bewusst diejenigen vorknöpft, von denen sie die ganzen Jahre gepiesackt worden ist. Ob das dem General und mutmaßlichen zukünftigen Präsidenten gefällt? Man darf es annehmen. Jedenfalls erledigt die Justiz damit ein Stück Drecksarbeit.

Noch einmal: Es ist Symbolpolitik, die im Übrigen ein Großteil der Ägypter im Moment befürwortet, weil er nur noch Ruhe haben möchte. Allerdings würden genau diese Ägypter plötzlich wieder sehr laut werden, wenn die 529 Verurteilten in ein paar Wochen geschlossen unter den Galgen treten müssten. Aber das wird kaum passieren.

Was soll man davon halten?

Zugegeben, 98,1 Prozent Zustimmung für eine Verfassung ist ein Ergebnis, das einen als aufrechten Demokraten nachdenklich werden lässt. Solche Ergebnisse wecken stets eine Erinnerung an Zeiten, in denen demokratische Prozesse in Deutschland lediglich als fades Deckmäntelchen dienten. Allerdings wäre es jetzt auch wieder zu einfach, zu sagen, die ägyptischen Generäle hätten nur so zum Schein über einen irrelevanten Verfassungsentwurf abstimmen lassen. Wie immer liegen die Dinge in Ägypten weit komplizierter.

Nicht die Zustimmung, sondern die Anzahl der Wähler sei die entscheidende Größe bei diesem Votum, hatte es schon vor Wochen geheißen. 38,6 Prozent waren an die Wahlurnen gegangen. Erstaunlich, wenn man die Bilder von den langen Schlangen vor den Wahllokalen in Kairo gesehen hat, wo die Menschen oft bis in die späten Abendstunden anstehen mussten. Aber auch das zeigt einmal mehr: Kairo und Alexandria sind eben nicht Ägypten. Je weiter es nach Süden ging, desto geringer wurde die Wahlbeteiligung. Ist ja kein Wunder, mag nun der geneigte Ägyptenkenner zu bedenken geben, denn Oberägypten ist ja auch Moslembrüder-Land. Ja, ja, es ist schon richtig, dass die Moslembrüder zum Wahlboykott aufgerufen hatten. Aber als sie über ihre eigene Verfassung abstimmen ließen, war die Wahlbeteiligung noch viel miserabler.

Die höchste Wahlbeteiligung überhaupt gab es in Ägypten beim zweiten Durchgang um die Präsidentschaftswahlen. Da lag sie bei 51 Prozent, und es kam zum Showdown zwischen Mursi und Shaffik. Nun gibt es durchaus Menschen, die einfach deshalb an der Demokratiefähigkeit Ägyptens zweifeln, weil die Wahlbeteiligung seit drei Jahren notorisch niedrig ist. Kann das ein Kriterium sein? Nur mal ein Beispiel: In der Schweiz, dem Hort der direkten Demokratie, hat es seit fast 40 Jahren keine Wahl zum Parlament mehr gegeben, in der die Wahlbeteiligung über 50 Prozent lag.

Trotzdem: Das Referendum ist für die provisorische Regierung und General Fatah al Sisi Sieg und Niederlage zu gleich. Es gelang eben nicht, wie erhofft mindestens mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu mobilisieren. Andererseits gab es noch in keiner Verfassung Ägyptens soviel Bürgerrechte und Minderheitenschutz. Doch diese Freiheit wiederum findet ganz schnell ihre Grenzen im Willen des Militärs.

Fazit: Ägypten hat eine gute Verfassung, und wenn die Militärs von ihren eher freiheitsfeindlichen Rechten, die ihnen dieser Verfassung gewährt, möglichst wenig Gebrauch machen, dann wird die Regierung auch das Vertrauen von jenen gewinnen, die dieses Mal nicht zur Wahl gegangen sind. Auch wenn viele dem Militär misstrauen – und es hat in den Wochen vor dem Referendum durchaus Anlass dazu gegeben – so ist die jetzt gebilligte Verfassung per se nicht schlecht, aber eben auch nur ein erster Schritt auf einem langen Weg.

Genau das ärgert mich!

Den Ausgang des Referendums in Ägypten will ich jetzt im Moment gar nicht kommentieren. Das offizielle Ergebnis steht noch nicht einmal fest. Aber wieder ist es der deutsche Qualitätsjournalismus, der des Wasser nicht halten kann und wo unreflektiert schon wieder kompletter Stuss verbreitet wird.

Vor dem Referendum war klar, dass nicht die Höhe der Zustimmung, sondern die Wahlbeteiligung viel aussagekräftiger sein würde. Nun sind die ersten Zahlen inoffiziell genannt worden, und die liegen bei einer Zustimmung von 95 Prozent und einer Wahlbeteiligung von 55 Prozent. Ob sich das alles so bestätigt, lassen wir zu diesem Zeitpunkt einmal dahingestellt.

Spiegel Online hat es einem nachrichtlichen Beitrag unter anderem Folgendes geschrieben: »Allerdings war die Wahlbeteiligung gering, die Islamisten hatten zum Boykott aufgerufen..« Immerhin hat sich der Autor noch verkneifen können zu schreiben, dass die Wahlbeteiligung so gering war, weil die Moslembrüder zum Boykott aufgerufen hatten, aber die Formulierung suggeriert genau das. Und damit wird die ganze Geschichte ziemlich unverschämt.

Aus bundesdeutscher demokratischer Tradion ist eine Wahlbeteiligung von 55 Prozent in der Tat eher dürftig. Aber wenn man sich in Ägypten die Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl, bei der Präsidentschaftswahl und bei dem letzten Verfassungsreferendum anschaut, dann ist die Wahlbeteiligung – so sie sich bestätigt – fast schon ein Rekordergebnis. Und eines ist bei diesem Resultat auch klar: Rein rechnerisch steht die Mehrheit der wahlberechtigten Ägypter hinter der Verfassung, selbst wenn die 45 Prozent, die nicht gewählt haben, alle nur deshalb nicht zur Urne gegangen sind, weil sie dem Boykottaufruf der Moslembrüder folgten.

Jetzt sehen wir uns einmal andere Wahlen an. Da wären die Präsidentschaftswahlen. Im ersten Durchgang erreichte Mursi 24,8 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 46 Prozent. Im zweiten Durchgang, als nur noch zwei Kandidaten zur Wahl standen, gewann er mit knapp 51,7 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent. Damit steht doch zumindest eines fest: Es stehen heute bedeutend mehr Ägypter hinter der neuen Verfassung, als jemals hinter Mursi gestanden haben – einer Verfassung im übrigen, die die Moslembrüder bis aufs Messer bekämpfen.

Dass der Boykott überhaupt erwähnt und in einen Zusammenhang gesetzt wird, ist noch aus einem anderen Grund reichlich unverschämt. Beim letzten Verfassungsreferendum – noch unter Mursi und den Moslembrüdern – hatte die Wahlbeteiligung etwas über 30 Prozent betragen – und das ganz ohne Boykottaufruf der Islamisten.

Wie gesagt: Eigentlich ist es für eine genaue Bewertung der Abstimmung noch viel zu früh. Aber das einstige selbsternannte »Sturmgeschütz der Demokratie« scheint das demokratische Prozedere in Ägypten ziemlich respektlos und arrogant zu betrachten. Vielleicht findet das Hamburger Magazin ja auch irgendwann zu seriösem Qualitätsjournalismus zurück. Aber dieser Schnellschuss des »Sturmgeschützes« war ein krachender Rohrkrepierer für die Demokratie.

Wer die Wahl hat

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob er mich nicht einfach nur testen wollte. Jedenfalls fragte mich mein Fahrer am Samstagabend, ob und was er denn wählen solle. Das wunderte mich schon ein wenig, denn in den letzten zehn Tagen hatte ich ihn nicht nur als überaus pünktlich, sondern auch als recht reflektiert kennengelernt. Mursi hält er für übel, und wenn es einer richten kann, dann wird es wohl Abdel Fatah al Sisi sein. So denken viele Ägypter, vor allem an der Küste, wo seit nun drei Jahren die Touristen fehlen.

Ich antwortete dem Fahrer, dass es ganz wichtig sei zu wählen, schon deshalb, weil dieses Mal die Reihenfolge richtig sei: Erst eine Abstimmung über die Verfassung und dann erst die Wahl des Parlaments. Diese Einschätzung nahm er nachgerade begeistert auf und versprach natürlich, wählen zu gehen – und für die Verfassung zu stimmen.

Hätte die richtige Reihenfolge etwas an dem Ablauf der Geschichte geändert? Ich glaube schon. Dadurch, dass vor zwei Jahren ein Parlament gewählt wurde, das anschließend eine Verfassung verabschieden sollte, konnten sich die Islamisten ihre Konstitution praktisch zurechtzimmern. Eine bereits bestehende Verfassung hätte Moslembrüder und Salafisten möglicherweise Zügel anlegen können.  Nun haben alle gesellschaftlich relevanten Gruppen mit Hand angelegt, um eine neues Grundgesetz zu entwerfen. Es ist nun deutlich demokratischer, weniger auf Religion zugeschnitten und gewährt Minderheiten mehr Schutz und Rechte. Der berühmt-berüchtigte Paragraph 2, der schon unter Anwar al Sadat in »Koran und Scharia sind die Quelle des ägyptischen Rechts« geändert wurde, wurde wieder auf die Nasser-Zeit zurückgefahren, als nur von »einer Quelle des ägyptischen Rechts« die Rede war.

Positiv ist sicher auch zu bewerten, dass die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränkt ist. Eine Dauerherrschaft wie die von Hosni Mubarak sollte also nicht mehr drohen.

Insgesamt wird die Verfassung auch im stets kritischen Westen als demokratischer Fortschritt gewertet. Allerdings gibt’s da ja noch die Passagen, die das Militär stärken. Da hat sich jedoch auch nicht so viel geändert. Das Militär bestimmt selbst den Verteidigungsminister, was allerdings nichts Neues ist. Es bleibt auch dabei, dass der Vertedigungshaushalt geheim bleibt und weder Parlament noch Regierung reinreden können. Neu sind allerdings die Militärtribunale, die nun auch Zivilisten aburteilen können, und das ist dann doch ein herber Wermutstropfen in einer sonst sehr demokratisch anmutenden Verfassung.

Es steht wohl außer Zweifel, dass die Verfassung angenommen wird. Manche rechnen sogar mit einer Zustimmungsrate von 80 Prozent. Soviele werden es vielleicht nicht werden. Problematisch ist vielmehr die Wahlbeteiligung. Bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gingen gerade einmal rund 40 Prozent der Ägypter an die Wahlurnen. Wären es bei der Verfassungsabstimmung wieder weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, wäre dies eine herbe Niederlage für die Übergangsregierung, den »Rat der 50«, der die Verfassung ausgearbeitet hat, und vor allem für den starken Mann al Sisi.

Die Auslandsägypter haben bereits abgestimmt und stehen zu etwa 90 Prozent hinter der neuen Verfassung. Allerdings haben nur rund 20 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Ob sich das auf das ganze Land übertragen lässt, ist jedoch fraglich.

Doch egal, wie das Referendum ausgeht, eines ist jedenfalls sicher: Die Ägypter haben sich eine neue Verfassung gegeben, und sie stimmen darüber ab. Das haben nach den Wochen im Sommer viele Kritiker bezweifelt. Schade ist allerdings, dass sich der »Rat der 50« nicht mehr Zeit nehmen konnte. Die USA lebten immerhin elf Jahre ohne ihre Constitution. Die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes hatten mehr als ein halbes Jahr Zeit. Dass ausgerechnet diese beiden Länder Ägypten in Sachen Verfassung zur Eile mahnten, ist dann schon ein wenig seltsam.

Das Referendum über die neue Verfassung wird ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratie sein. Wie groß dieser Schritt sein wird, das hängt jetzt davon ab, wieviele Menschen in die Wahllokale gehen. Rund 50 Millionen Ägypter sind wahlberechtigt. Anfang Juli gingen angeblich 30 Millionen auf die Straße, um gegen Mursi zu demonstrieren. Wenn die jetzt alle wählen gingen, läge die Wahlbeteiligung bei 60 Prozent. Und damit könnten sie in Ägypten schon ganz gut leben.