Sisi und die religiöse Revolution

Während hier in Deutschland Tausende auf die Straße gehen, um diesen wirren Verschwörungstheoretikern entgegenzutreten, die das Abendland vor einer Islamisierung retten wollen, hat es eine sensationelle Nachricht nicht einmal annähernd in unsere Leitmedien geschafft. Einzig der Tageszeitung „Die Welt“ ist aufgefallen, was Abdel Fatah al Sisi den Geistlichen Ägyptens bei seiner Silvesteransprache ins Stammbuch geschrieben hat. Doch auch in diesem Zusammenhang konnte es sich die „Welt“ nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass Sisi ja eigentlich doch ein Diktator sei, der gerade einen Komiker verfolgen lasse. Was das eine mit den anderen zu tun hat, wollte sich mir nicht so recht erschließen.

Doch was ist denn nun so sensationell? Sisi ist das erste Staatsoberhaupt eines muslimischen Landes, das eine tiefgreifende Reform des Islam fordert. Und das nicht irgendwo, sondern in der Al-Ahzar-Universität in Kairo, dem wichtigsten Lehrinstitut des sunnitischen Islams. Wörtlich sagte er unter anderem: „Das Werk der islamischen Texte und Ideen, die wir über die Jahrhunderte als heilig erklärt haben, erzürnt die gesamte Welt.“ Er ging darauf ein, dass es scheine, als wollten 1,6 Millarden Muslime die restlichen sechs Millarden Menschen auf dieser Welt töten. Dann warf er den Imamen vor, in alten Denkschemata verhaftet zu sein. „Wir brauchen eine religiöse Revolution. Und Sie Imame sind dafür verantwortlich. Die gesamte Welt wartet auf Ihren nächsten Schritt“, erklärte der Ägyptische Präsident.

Und das berichtet bei uns genau eine Tageszeitung! Haben diese Schnarchzapfen in den deutschen Redaktionsstuben nicht begriffen, dass diese Rede Sisis viel wichtiger und bedeutsamer war als jede Anti-Pegida-Demo oder ob am Kölner Dom und am Brandenburger Tor das Lichts ausgeknipst wird? Die Ansprache alleine ist schon eine Revolution. Alleine die Tatsache, dass der weltliche Staatschef den Geistlichkeit ziemlich unverholen eine Handlungsanweisung erteilt, die eine völlig Abkehr von bisherigen Kurs bedeutet, ist schon ein ziemlicher  Afront gegen die Geistlichkeit. Jeder, der die arabische Welt ein wenig kennt, weiß, dass Selbskritik und die Kunst des klaren Wortes nicht zu den Kernkompetenzen dieser Kultur gehören. Dass sich ein arabischer Staatsmann hinstellt und öffentlich erklärt, dass die ganze Welt die Muslime hasst – und zwar zurecht – ist ein einzigartiger und nie dagewesener Vorgang, der in der gesamten arabischen Welt für höchste Verblüffung gesorgt haben dürfte. Eigentlich fehlt ja nur noch, dass ihn irgendwelche Pegida-Aktivisten als Redner für die nächste Montags-Demo nach Dresden einladen. Zuzutrauen wäre es diesen Schwachköpfen. Tatsächlich könnte Sisis Vorstoß auch hierzulande das Ende von Pegida einläuten.

Nimmt man das Motto der Pegida ernst, dann fürchten sich diese Leute gerade mal vor ein paar Tausend Salafisten in Deutschland. Das sind so ziemlich die einzigen, die hier ernsthaft missionieren und Deutschland islamisieren wollen. Genau vor denen fürchtet sich ja auch der Ex-General auf dem Präsidentensessel. Die Salafisten und Dschihadisten verbreiten das Wort des Propheten so, wie er es selbst vor rund 1300 Jahren tat, nämlich mit Gewalt. Spannend ist dabei, dass ja viel mehr Moslems als Andersgläubige den Fanatikern zum Opfer fallen. Trotzdem hat sich nie ein König oder Präsident dezidiert auf der Glaubensebene mit den Erben Hasan al Banas auseinandergesetzt.

Warum kommt der Aufruf zur religiösen Revolution jetzt und was bezweckt er? Spätestens seit seinem Suezkanal-Coup ist Sisi praktisch unantastbar. Dadurch, dass er den „zweiten“ Suezkanal bauen lässt und und er das Geld dafür weitgehend im Land eingesammelt hat, ist es ihm gelungen, den viel beschworenen tiefen und angeblich unüberwindlichen Graben in der ägyptischen Gesellschaft in Rekordzeit zuzuschütten. Er kann inzwischen auf eine unglaublich breite Rückendeckung aus dem Volk bauen. Das gibt ihm gegenüber der Geistlichkeit auch ein starkes Gewicht. Sie soll sich nach Sisis Willen nun auch von den letzten Resten einer Moslembruderschafts-Gesinnung befreien. Die angekündigte religöse Revolution ist also somit auch Teil seines Feldzuges gegen die Moslembrüder und allem, was mit ihnen zusammenhängt.

Was sind die Auswirkungen? In Ägypten selbst wird sich die Geistlichtkeit ändern müssen, weil sie sonst sehr schnell zwischen zwei Fronten gerät: Einserseits die Politik, andererseits die Bevölkerung. Wenn sich das Verhältnis von Religion zu Gesellschaft in Ägypten verändern sollte, wird das zwangsläufig Auswirkungen auf alle Regionen dieser Welt haben, in denen Sunniten in größerer Zahl leben. Spannend wird es sein, wie ein andere großer Staatsmann reagieren wird. Recep Tayyip Erdogan könnte versuchen, den Vorstoß Sisis zu unterlaufen. Doch sollte das dem türkischen Präsidenten nicht gelingen und Sisis Aufruf zur Revolution Wellen bis nach Deutschland schlagen, dann könnte das das Ende von Pegida einläuten. Wenn sich nämlich ein großer Teil der Muslime in Deutschland offen und stark gegen die Salafisten zur Wehr setzt, ist der Pegida ihr eigentlich sinnstifendes Thema abhanden gekommen. Wenn die Islamisierung des Abendlandes erst einmal abgewehrt ist, dann wird die Pegida sich entweder auflösen oder ihr wahres Gesicht zeigen müssen.

Die Rache des Regimes

Das ist jetzt mal ein Paukenschlag vor den geplanten Wahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament. Das Gericht in El Minya hat in einem Verfahren sagenhafte 529 Todesurteile verkündet. Das klingt sehr nach Willkürherrschaft und der Rache des Regimes. Doch auch hier gilt es wie in vielen anderen Fällen in Ägypten, erst einmal Ruhe zu bewahren und sich genau anzusehen, was da eigentlich passiert ist.

Moschee gegen Justizpalast: In Ägypten ist das eine Auseinandersetzung mit Tradition. Foto: psk

Moschee gegen Justizpalast: In Ägypten ist das eine Auseinandersetzung mit Tradition.
Foto: psk

Um eines vorweg zu schicken: Ich bin natürlich ein eingefleischter Gegner der Todesstrafe, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass solch ein Massenverfahren im Schnelldurchlauf, dazu noch mit solch drakonischen Urteilen, den Maßstäben eines halbwegs fairen Rechtssystems standhalten kann. Ein wenig erinnert das jetzt schon an den Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution. Allerdings gibt es einen gewichtigen Unterschied: Während in Paris die Delinquenten umgehend unter der Guillotine landeten, stehen die Chancen nicht so schlecht, dass alle 529 Verurteilten mit dem Leben davonkommen. Auch die Hooligans von Port Said, von denen über 70 mit der Todesstrafe belegt wurden, werden wohl nicht hingerichtet.

Es geht hier natürlich in erster Linie um Symbolpolitik. Und diejenigen, die nun verurteilt worden sind, sind nicht einfach willkürlich zu Opfern des herrschenden Regimes geworden. Da ist zum Beispiel der stellvertretende Vorsitzende der Moslembrüder Mohammed Badie. Seine Mordaufrufe kursieren heute noch im Internet, und sie galten Demonstranten, die es wagten, gegen den damaligen Präsidenten Mursi auf die Straße zu gehen. Juristisch ist die Frage ja durchaus erlaubt, ob man im Aufruf zum Mord schon die Anstiftung dazu sehen kann – und damit wäre er wie ein Täter zu behandeln. Jedenfalls hat es ja nichts mit Siegerjustiz zu tun, wenn jemand, der zum Mord aufruft, für diesen Aufruf am Ende auch verurteilt wird. Ich spreche hier nur über die Tatsache des Urteils, nicht über das Strafmaß.

Und was ist mit den Verführten, mit jenen, die mit hassverzerrten Fratzen vor jener Polizeistation in El Minya standen und Blut sehen wollten, oder die sehen wollten, wie koptische Christen in ihren Kirchen verbrennen? In einem Facebook-Kommentar habe ich gelesen, dass 529 Menschen verurteilt wurden, weil ein Mensch ermordet worden ist. Der Kommentator findet das unverhältnismäßig. Ja, was ist denn, wenn vier Skinheads einen Obdachlosen aus Mordlust tottreten? Soll dann jeder nur viertellebenslänglich kriegen? Wo verläuft die Grenze zwischen individueller und Kollektivschuld? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, nicht wahr?

Ist das die Rache des Regimes? Das ist eine knifflige Frage. Seit Jahren, schon seit den Zeiten von Mubarak tobte hinter den Kulissen ein Krieg um die Macht im Justizsystem. Brennpunkt dieser Auseinandersetzung war die Al-Ahzar-Universität in Kairo. Ironischerweise galt die theoligische Fakultät immer als vergleichsweise liberal, während die juristische Fakultät ein Hort der Hardcore-Islamisten gewesen sein soll. Immerhin gab es den Versuch der Moslembrüder – schon lange vor dem Sturz Mubaraks – das Justizsystem zu unterwandern und somit quasi durch die Hintertür an die Macht zu kommen. Im Zivilrecht, da wo die Sharia gilt, ist das zum Teil ganz gut gelungen. Das führt dann zu einer fragwürdigen Konkurrenz von weltlichen und religiösen Gerichten. Auch während der Amtszeit von Präsident Mursi trat das deutlich zutage. Mursis größte Gegner saßen in den ägyptischen Gerichten, die seine Ansinnen ein ums andere Mal durchkreuzen konnten. Als Beispiel seien nur die Präsidentendekrete oder die Entlassung des Generalstaatsanwaltes genannt.

Die unterschiedlichen Rechtssysteme hatten bisweilen sehr bizarre Auswüchse. Einer der bekanntesten dürfte die Affäre Abu Said gewesen sein. Der Lireraturwissenschaftler Nasser Hamid Abu Said wurde 1995 von seiner Frau durch ein religöses Gericht zwangsgeschieden, was damals für Aufsehen in der ganzen Welt sorgte.

Im Großen und Ganzen sind die ägyptischen Gerichte zwar besser als ihr Ruf, aber es kommt in Einzelfällen schon immer wieder zu merkwürdigen Urteilen. Aber im Falle der Moslembrüder kann man von einer gewissen Berechenbarkeit ausgehen. Da sind nämlich noch viele, viele Rechnungen aus den vergangenen Jahren offen. Wer jetzt behauptet, dass in den ägyptischen Gerichten ja doch nur die alten Mubarak-Kader sitzen, macht es sich zu einfach. Die ägyptische Justiz ist schon recht selbstbewusst.

Viele Gegner der derzeitigen Übergangsregierung werden behaupten, das Urteil sei im Büro von Generals Sisi verfasst worden. Ich halte das für Blödsinn. Das Urteil ist nicht die Rache des Regimes, sondern eher die der Justiz, die sich ganz bewusst diejenigen vorknöpft, von denen sie die ganzen Jahre gepiesackt worden ist. Ob das dem General und mutmaßlichen zukünftigen Präsidenten gefällt? Man darf es annehmen. Jedenfalls erledigt die Justiz damit ein Stück Drecksarbeit.

Noch einmal: Es ist Symbolpolitik, die im Übrigen ein Großteil der Ägypter im Moment befürwortet, weil er nur noch Ruhe haben möchte. Allerdings würden genau diese Ägypter plötzlich wieder sehr laut werden, wenn die 529 Verurteilten in ein paar Wochen geschlossen unter den Galgen treten müssten. Aber das wird kaum passieren.