Al Sisi überrascht den Spiegel

Die Haltung der deutschen Medien zu dem, was im Juli und August 2013 in Ägypten passierte, ist relativ eindeutig. Der Sturz von Mohammed Mursi wurde allenthalben als Militärputsch bezeichnet, mit dem Mastermind Abdel Fatah al-Sisi als Strippenzieher im Hintergrund. Und dass sich der ehemalige Feldmarschall dann in einer pseudodemokratischen Wahl nach einer angemessenen Schamfrist zum Präsidenten wählen ließ und damit faktisch zum Diktator machte, schien in der deutschsprachigen Presse ebenfalls eine ausgemachte Sache.

Und nun ist dem Spiegel eine nahezu sensationeller Scoop gelungen. Das Hamburger Nachrichtenmagazin bekam als eines der ersten westlichen Medien ein zweistündiges Interview mit dem Ägyptischen Präsidenten (Link zum kostenpflichtigen Artikel), der eher als pressescheu gilt. Die Kollegen Dieter Bednarz und Klaus Brinkbäumer konfrontierten Sisi so ziemlich mit allem, was man ihm in der deutschen Presse nachsagt. Sie thematisierten die Räumung des Camps auf dem Raba’a-Platz, bei dem zwischen 600 und 700 Menschen ums Leben kamen, ebenso wie die Inhaftierung von Revolutionären oder die jüngsten 183 Todesurteile. Zu ihrer Verblüffung hatte Sisi auf jede Frage eine plausible Antwort parat. Doch das ist noch nicht alles. Die Gesprächsatmosphäre und die eigene Nachdenklichkeit des Präsidenten haben die beiden Spiegelmitarbeiter tief beeindruckt. Mindestens so spannend wie das Interview, das seit Samstag an den Kiosken zu haben ist, ist das Video auf Spiegel Online über den Ablauf des Interviews.

Es ist ja kein großes Geheimnis, dass ich an dieser Stelle schon häufig die deutschen Medien für ihre doch bisweilen merkwürdige Ägypten-Berichterstattung kritisiert habe. So fragte ich mich etwa, warum es deutschen Medien wichtiger ist, über das Einreiseverbot von Amal Alamuddin Cloony nach Ägypten zu berichten, als über die Rede Sisis an der Al Ahzar Universität, in der er der versammelten Geistlichkeit mal so richtig die Leviten gelesen hat.

Vielleicht mag sich das jetzt nach diesem Spiegel-Interview ja ändern. Noch selten habe ich erlebt, dass Journalisten aus einem Gespräch mit solch einem verblüfften Aha-Erlebnis herauskommen und das auch noch ganz offen so kommunizieren. Das Wort „Diktator“ kommt ihnen jetzt schon schwerer über die Lippen. Erstaunlich ist auch, dass sich die Begrifflichkeit der Ereignisse vom Sommer 2013 geändert hat. Was für viele Ägypter die zweite Revolution war, galt dem Westen stets als Militärputsch. Dieses Wort fällt weder im Interview noch in der dazugehörigen Berichterstattung. Statt dessen ist jetzt von einem „Staatsstreich“ die Rede. Das klingt nicht so brutal und hat einen etwas legitimeren Unterton, als die Vokabel „Militärputsch“.

Natürlich kann man Abdel Fattah al Sisi für einen Diktator halten, kann sein hartes Vorgehen gegen die Opposition im Allgemeinen und die Moslembrüder im Besonderen beklagen. Was aber definitiv nicht in das Bild eines blutrünstigen Dikatator passt, ist die Tatsache, dass er sich genau dieser Kritik stellt, dass er sein Handeln auch erklären will. Ganz offensichtlich hält er nämlich seine Argumente für gut und stark genug, dass er sie in einem der wichigsten europäischen Nachrichtenmagazine kommunizieren will. Das heißt ja auch, dass er sich ausgerechnet dort, wo er am meisten kritisiert wird, der Presse stellt. Ein ganz so großer Feind der Pressefreiheit mag Sisi dann vielleicht doch nicht sein. Es ist übrigens spannend, die Berichterstattung jener deutschsprachigen Kollegen zu verfolgen, die am heftigsten die mangelnde Pressefreiheit in Ägypten beklagen. Es ist schon sehr erstaunlich, was sie alles über das Land berichten können, ohne dass man ihnen die Akkreditierung entzogen und sie aus dem Land geworfen hat.

Hafen-Terminal in Hurghada

Frisch eröffnet: Das neue Hafen-Terminal in Hurghada. Foto: psk

Dabei gibt es durchaus auch handfeste positive Dinge zu berichten. So gibt es zum Beispiel zahlreiche Infrastrukturmaßnahmen, etwa den zweiten Suezkanal. Der wurde in Rekordzeit finanziert, indem Aktien mit niedrigem Nennwert an die Bevölkerung verkauft wurden.  In Hurghada sind vor zwei Monaten ein Hafen und ein Flughafen eröffnet worden, Projekte also, mit denen natürlich auch zahlreiche deutsche Touristen in Kontakt kommen und die jetzt nicht gerade vom Niedergang des Landes künden.

Eine kritische Berichterstattung ist für ein funktionierendes Gemeinwesen und für die Demokratie unabdingbar. Aber sie muss auch ausgewogen sein. In den letzten beiden Jahren ist es mit Ägypten anscheinend rasend schnell bergab gegangen – diesen Eindruck müsste man gewinnen, wenn man die deutsche Presselandschaft verfolgt. Doch wer das Land kennt, wer es häufig besucht, sich mit den Menschen auseinandersetzt, stellt fest, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Es bleibt noch unendlich viel zu tun bis Ägypten seine gewaltigen Probleme in punkto Energie, Infrastruktur, Bildung und Wirtschaftsstruktur auch nur annähernd gelöst hat. Dazu gehört ein gerüttelt Maß an Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis. Das verordnet Präsident Sisi derzeit auch seinem Land. Es würde Ägypten sicher helfen, wenn deutschen Medien ihn auf diesem Weg auch fair begleiten würden.

Sisi und die religiöse Revolution

Während hier in Deutschland Tausende auf die Straße gehen, um diesen wirren Verschwörungstheoretikern entgegenzutreten, die das Abendland vor einer Islamisierung retten wollen, hat es eine sensationelle Nachricht nicht einmal annähernd in unsere Leitmedien geschafft. Einzig der Tageszeitung „Die Welt“ ist aufgefallen, was Abdel Fatah al Sisi den Geistlichen Ägyptens bei seiner Silvesteransprache ins Stammbuch geschrieben hat. Doch auch in diesem Zusammenhang konnte es sich die „Welt“ nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass Sisi ja eigentlich doch ein Diktator sei, der gerade einen Komiker verfolgen lasse. Was das eine mit den anderen zu tun hat, wollte sich mir nicht so recht erschließen.

Doch was ist denn nun so sensationell? Sisi ist das erste Staatsoberhaupt eines muslimischen Landes, das eine tiefgreifende Reform des Islam fordert. Und das nicht irgendwo, sondern in der Al-Ahzar-Universität in Kairo, dem wichtigsten Lehrinstitut des sunnitischen Islams. Wörtlich sagte er unter anderem: „Das Werk der islamischen Texte und Ideen, die wir über die Jahrhunderte als heilig erklärt haben, erzürnt die gesamte Welt.“ Er ging darauf ein, dass es scheine, als wollten 1,6 Millarden Muslime die restlichen sechs Millarden Menschen auf dieser Welt töten. Dann warf er den Imamen vor, in alten Denkschemata verhaftet zu sein. „Wir brauchen eine religiöse Revolution. Und Sie Imame sind dafür verantwortlich. Die gesamte Welt wartet auf Ihren nächsten Schritt“, erklärte der Ägyptische Präsident.

Und das berichtet bei uns genau eine Tageszeitung! Haben diese Schnarchzapfen in den deutschen Redaktionsstuben nicht begriffen, dass diese Rede Sisis viel wichtiger und bedeutsamer war als jede Anti-Pegida-Demo oder ob am Kölner Dom und am Brandenburger Tor das Lichts ausgeknipst wird? Die Ansprache alleine ist schon eine Revolution. Alleine die Tatsache, dass der weltliche Staatschef den Geistlichkeit ziemlich unverholen eine Handlungsanweisung erteilt, die eine völlig Abkehr von bisherigen Kurs bedeutet, ist schon ein ziemlicher  Afront gegen die Geistlichkeit. Jeder, der die arabische Welt ein wenig kennt, weiß, dass Selbskritik und die Kunst des klaren Wortes nicht zu den Kernkompetenzen dieser Kultur gehören. Dass sich ein arabischer Staatsmann hinstellt und öffentlich erklärt, dass die ganze Welt die Muslime hasst – und zwar zurecht – ist ein einzigartiger und nie dagewesener Vorgang, der in der gesamten arabischen Welt für höchste Verblüffung gesorgt haben dürfte. Eigentlich fehlt ja nur noch, dass ihn irgendwelche Pegida-Aktivisten als Redner für die nächste Montags-Demo nach Dresden einladen. Zuzutrauen wäre es diesen Schwachköpfen. Tatsächlich könnte Sisis Vorstoß auch hierzulande das Ende von Pegida einläuten.

Nimmt man das Motto der Pegida ernst, dann fürchten sich diese Leute gerade mal vor ein paar Tausend Salafisten in Deutschland. Das sind so ziemlich die einzigen, die hier ernsthaft missionieren und Deutschland islamisieren wollen. Genau vor denen fürchtet sich ja auch der Ex-General auf dem Präsidentensessel. Die Salafisten und Dschihadisten verbreiten das Wort des Propheten so, wie er es selbst vor rund 1300 Jahren tat, nämlich mit Gewalt. Spannend ist dabei, dass ja viel mehr Moslems als Andersgläubige den Fanatikern zum Opfer fallen. Trotzdem hat sich nie ein König oder Präsident dezidiert auf der Glaubensebene mit den Erben Hasan al Banas auseinandergesetzt.

Warum kommt der Aufruf zur religiösen Revolution jetzt und was bezweckt er? Spätestens seit seinem Suezkanal-Coup ist Sisi praktisch unantastbar. Dadurch, dass er den „zweiten“ Suezkanal bauen lässt und und er das Geld dafür weitgehend im Land eingesammelt hat, ist es ihm gelungen, den viel beschworenen tiefen und angeblich unüberwindlichen Graben in der ägyptischen Gesellschaft in Rekordzeit zuzuschütten. Er kann inzwischen auf eine unglaublich breite Rückendeckung aus dem Volk bauen. Das gibt ihm gegenüber der Geistlichkeit auch ein starkes Gewicht. Sie soll sich nach Sisis Willen nun auch von den letzten Resten einer Moslembruderschafts-Gesinnung befreien. Die angekündigte religöse Revolution ist also somit auch Teil seines Feldzuges gegen die Moslembrüder und allem, was mit ihnen zusammenhängt.

Was sind die Auswirkungen? In Ägypten selbst wird sich die Geistlichtkeit ändern müssen, weil sie sonst sehr schnell zwischen zwei Fronten gerät: Einserseits die Politik, andererseits die Bevölkerung. Wenn sich das Verhältnis von Religion zu Gesellschaft in Ägypten verändern sollte, wird das zwangsläufig Auswirkungen auf alle Regionen dieser Welt haben, in denen Sunniten in größerer Zahl leben. Spannend wird es sein, wie ein andere großer Staatsmann reagieren wird. Recep Tayyip Erdogan könnte versuchen, den Vorstoß Sisis zu unterlaufen. Doch sollte das dem türkischen Präsidenten nicht gelingen und Sisis Aufruf zur Revolution Wellen bis nach Deutschland schlagen, dann könnte das das Ende von Pegida einläuten. Wenn sich nämlich ein großer Teil der Muslime in Deutschland offen und stark gegen die Salafisten zur Wehr setzt, ist der Pegida ihr eigentlich sinnstifendes Thema abhanden gekommen. Wenn die Islamisierung des Abendlandes erst einmal abgewehrt ist, dann wird die Pegida sich entweder auflösen oder ihr wahres Gesicht zeigen müssen.