Die Freiheit der Versammlung

Diskussionsrunde im Mehrgenerationenhaus. Foto: rsp

Diskussionsrunde im Mehrgenerationenhaus. Foto: rsp

Vor knapp zwei Wochen war ich zu einer Diskussion im Mehrgenerationenhaus in der Wassertorstraße hier in Berlin-Kreuzberg eingeladen. Es ging um den Umgang der Medien mit den Ereignissen in Ägypten und in der Türkei. Die regelmäßigen Leser dieses Blogs werden vermutlich erahnen, welche Haltung ich zu diesem Thema eingenommen habe. Es ist wirklich jammerschade, dass bis zu jenem Zeitpunkt der ARD-Hörfunkkorrespondent Jürgen Stryjack seine Erkenntnisse über das neue ägyptische Demonstrationsrecht noch nicht unters Volk gebracht hatte. Das ist nämlich ein Paradebeispiel für das, was ich meine. Stryjak beschwört in einem Beitrag am vergangenen Sonntag Ägyptens Rückkehr zu einem Polizeistaat. Beleg dafür sei das neue Demonstrationsrecht: „Das neue Gesetz verlangt, dass Demonstrationen angemeldet werden müssen, mit konkreten Angaben zu Ziel, Organisatoren, Teilnehmerzahl, Anfang und Ende.“ Also ich kann das jetzt nicht so recht als Beleg für eine Rückkehr zum Polizeistaat sehen. Im Gegenteil, mir kommt das alles sehr bekannt vor. Ich lebe in einer Stadt, in der es jährlich etwa 2.000 Demonstrationen gibt. Die meisten davon sind angemeldet. Sogar die berüchtige „Revolutionäre 1.-Mai-Demo“, bei der es jedes Jahr in Kreuzberg zu manchmal schweren und manchmal nicht so schweren Krawallen kommt. Alle füllen sie brav dieses Formular aus, in dem nach Zweck, Ort, Demonstrationsroute und so weiter gefragt wird. Fast ebenso häufig gibt es heftige Diskusionen über die Route, denn es gehört schon zu den Ritualen, dass die Polizei grundsätzlich die Route ändert. Leben wir jetzt also in einem Fascho-Schweine-Staat? Die Anmelder der Demos, deren Routen geändert werden, würden dem ganz bestimmt zustimmen. Die Polizei wird dem widersprechen, weil sie ja nur den Kollataral-Glasschaden in Grenzen halten will. Aber verdammt noch mal – in was für einer Polizeidiktatur leben wir denn, wenn sie einen schon daran hindern, die gerechte Wut über die da oben an Schaufensterscheiben von Mittelständlern auszulassen?

Tja – alles gar nicht so einfach. Natürlich kann das Demonstrationsrecht missbraucht werden, genau so wie die Regelungen zum Versammlungsrecht missbraucht werden können. Rein theoretisch haben wir nämlich durchaus ein sehr restriktives Versammlungsgesetz, das allerdings sehr liberal ausgelegt wird. Unseres ist, zumal in seiner bayerischen Variante, in Teilen sogar deutlich schärfer, als der ägyptische Gesetzesentwurf.

Und das zweite erwähnte Gesetz? Nun gut, ich gebe zu, dass mir das ein wenig mehr Bauchschmerzen bereitet. Aber auch hier gibt es in der jüngeren deutschen Geschichte durchaus Parallelen. Es gab mal in den 70er Jahren den Radikalenerlass, da durfte ein Kommunist in der Bundesrepublik noch nicht mal Lokführer werden. Trotzdem, dieser Gummiparagraf kann natürlich die Einfallstür für eine neue Diktatur werden. Aber das muss nicht sein.

Vielmehr hätte mich interessiert, was denn zum Beispiel die Tamarod-Vertreter in der verfassungsgebenden Versammlung so treiben. Oder wie weit die Ägypter überhaupt mit ihrer neuen Verfassung sind. Das ist zum Beispiel auch ein Punkt, der in den deutsche Medien nie gewürdigt worden ist: Die Ägypter haben ihre künftige Verfassung eben nicht mehr in die Hände eines wankelmütigen Parlaments gestellt, sondern vor den Wahlen alle, aber auch wirkliche alle gesellschaftlich relevanten Gruppen an einen Tisch geholt. Kommt uns das nicht auch bekannt vor? Und sind wir mit diesem Ergebnis vom Herrenchiemsee nicht ganz gut gefahren?

Mursi, Lincoln und der Weihnachtsmann

Ägypter zu verstehen ist für Europäer nicht immer leicht, auch für mich nicht. Doch manchmal verstehe ich Europäer, die in Ägypten leben, noch weniger. Geradezu bizarr erscheint mir, wie derzeit der ägyptische Präsident Mohammed Mursi bewertet wird. Vor allem die Korrespondenten scheinen mir merkwürdig in ihren Analysen. Der Spiegel sieht in ihm einen neuen Pharao, die ARD spricht davon, dass er eine größere Machtfülle habe, als Mubarak sie jemals gehabt habe. Von einer neuen Diktatur ist die Rede. Auf Blogs in in Foren wird eifrig darüber diskutiert, ob Mursi seine Moslembrüder nun wirklich in alle nur denkbaren Schlüsselpositionen boxen will. Kommen auf Ägypten nun ganz schlimme Zeiten zu?

Baut Mohammed Mursi das Amt des Präsidenten zur islamistischen Trutzburg aus? (Fort des Sultan selim in El Qesir)

Vielleicht lohnt es einfach mal, sich die letzten Wochen und Monate genauer anzusehen. Bislang hat Mursi nichts von dem getan, was man ihm unterstellt hat. Im Gegenteil. Er hat sowohl die eigenen Landsleute, als auch die Welt überrascht. Da war die Entmachtung des Militärrats, der beeindruckende Auftritt bei der Vorversammlung der Blockfreien, das Verbot, Journalisten beim Verdacht der Präsidentenbeleidigung in Untersuchungshaft zu nehmen und jetzt gerade der Waffenstilstand zwischen Palästinensern und Israelis (mal sehen wie lange der hält). Der Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud, der ihm vor wenigen Wochen noch getrotzt hatte und nur „als Leiche“ seinen Posten verlassen wollte, ist nun auch weg. Gerade das sei der Beleg dafür, dass Mursi nach Exekutive und Legislative nun auch noch die Judikative an sich gerissen habe. Nun hatte aber eben jener Generalstaatsanwalt eine doch recht große Nähe zum alten Regime Mubarak erkennen lassen. Die, die Mursi die Entlassung Mahmuds vorwerfen, beklagen sich andererseits darüber, dass die Mubarak-Ära nur unzureichend von den Gerichten aufgeklärt wird.

Dass er die Legislative nun im Zaum hält, ist bislang noch nicht zum Schaden für das Land gewesen. Im Parlament sitzen zwei Drittel Islamisten. Die meisten davon gehören zu seiner Klientel. Genau die hält er doch in Schach, damit sie nicht noch größeren Unsinn anrichten. Mit einigermaßen großem Entsetzen mag sich der eine oder andere vielleicht noch an Gesetzeseingaben der Salafistenpartei El Nur erinnern (Wie lange darf ein Mann nach dem Tod seiner Frau noch Verkehr mit ihr haben?). Entscheidend wird natürlich sein, wann es dann tatsächlich zu Neuwahlen kommen und wie stark dann das neue Parlament sein wird.

Bislang zielten die Vorwürfe gegen Mursi nur auf das, was er bis dato nicht getan hatte – nämlich einen großen Teil seiner Wahlversprechen einzulösen – und das was er vielleicht als gewesener Moslembruder tun könnte. Nun steht also der Vorwurf im Raum, dass er sich diktatorische Vollmachten angeeignet habe. Um damit was zu tun?

Ägypten steht vor kaum lösbaren Problemen. Da ist die Überbevölkerung aus der eine Ernährungs- und Energiekrise erwächst, die im Frühjahr möglicherweise erst ihren Höhepunkt erreichen könnte, wenn die Weltmarktpreise für Getreide in die Höhe schnellen. Da ist die Bildungsmisere, das marode Gesundheitssystem – und vor allem sind da die leeren Kassen. Ägypten wäre faktisch pleite, wenn da nicht noch ein wenig Geld aus den USA kommen würde. Vielleicht wäre es für Mursi ja einfacher, die Knete in Saudi Arabien oder Katar abzuholen. Hat er aber bislang vermieden. Warum wohl nur?

1860 wählten die Amerikaner Abraham Lincoln zum Präsidenten, in der Hoffnung, er werde Sezession und Bürgerkrieg vermeiden. Als er daran scheiterte, setze er alles daran, die Union wieder herzustellen. Er maßte sich ebenfalls diktatorische Vollmachten an. Er missachtete den Kongress, ignorierte die Gerichte und trickste sogar bei der Sklavenbefreiung. Hat er das alles getan, weil es ihm Spaß gemacht hat? Zeitzeugen sagen, dass er alles andere als ein Diktator war, aber auch keine andere Alternative zu seinem Handeln gesehen habe.

Es ist schon erstaunlich, was sich für Parallelen zwischen den beiden auftun. Beide stammen aus einfachen, ländlichen Verhältnissen. Beide wurden von ihren Parteien als Kompromisskandidaten für die Wahl des Präsidentenamtes aufgestellt. Beide wurden für ihr Kommunikationsverhalten belächelt. Beide banden ihre politischen Gegner in ihr Kabinett ein, und beide zeichnet ein Hang zu überraschenden politischen Entscheidungen aus. Beide standen vor der Aufgabe, eine existenzbedrohende Krise in ihrem Land zu meistern. Und beide scheinen sich dazu diktatorischer Mittel zu bedienen. Außerdem vermute ich, dass Mursi die gleiche persönliche Bescheidenheit auszeichnet, wie sie Lincoln nachgesagt wird.

Nicht wenige Europäer haben sich nach dem Sturz Mubaraks hinter vorgehaltener Hand darüber beklagt, dass jetzt die Sicherheit und Berechenbarkeit in Ägypten völlig zum Teufel gegangen sein. Andere behaupten gar klipp und klar, dass die Ägypter gar nicht zu einer Demokratie fähig seinen und sich im tiefsten Inneren ihres Herzens ja doch nur einen starken Mann wünschen. Tja – nun ist er überraschend da – und dann ist es wieder nicht recht?

Jeder, aber auch wirklich jeder, den ich kenne, wünscht sich, dass das arme Land endlich wieder in ruhiges Fahrwasser gerät, dass seine immensen Problemberge endlich abgebaut werden. Doch ist es wirklich realistisch, dass dies mit einem so besetzten und demokratisch legitimierten(!) Parlament überhaupt möglich ist? Man könnte es ja probieren – oder genauso gut auf den Weihnachtsmann warten. Der wird es dann auch schon irgendwie richten.

Durchgreifende und wirksame Reformen müssen schnell kommen, denn das Land hat keine Zeit mehr. Im Frühjahr stehen sie alle da: Der IWF, die Lebensmittelspekulanten, die Ölscheichs – und alle werden sie die Hand aufhalten oder auf Haushaltskürzungen drängen. Wie soetwas dann in einem zerstrittenen Parlament weitergeht, hat die Welt jetzt ein paar Jahre lang in Griechenland besichtigen können.

Man mag Mursi mögen oder nicht. Man mag ihm vertrauen oder nicht. Aber er ist im Moment der Einzige, den sie haben. Er muss die Karre jetzt wieder aus dem Dreck ziehen. Sonst wird das auf Dauer keiner tun.