Was soll man davon halten?

Zugegeben, 98,1 Prozent Zustimmung für eine Verfassung ist ein Ergebnis, das einen als aufrechten Demokraten nachdenklich werden lässt. Solche Ergebnisse wecken stets eine Erinnerung an Zeiten, in denen demokratische Prozesse in Deutschland lediglich als fades Deckmäntelchen dienten. Allerdings wäre es jetzt auch wieder zu einfach, zu sagen, die ägyptischen Generäle hätten nur so zum Schein über einen irrelevanten Verfassungsentwurf abstimmen lassen. Wie immer liegen die Dinge in Ägypten weit komplizierter.

Nicht die Zustimmung, sondern die Anzahl der Wähler sei die entscheidende Größe bei diesem Votum, hatte es schon vor Wochen geheißen. 38,6 Prozent waren an die Wahlurnen gegangen. Erstaunlich, wenn man die Bilder von den langen Schlangen vor den Wahllokalen in Kairo gesehen hat, wo die Menschen oft bis in die späten Abendstunden anstehen mussten. Aber auch das zeigt einmal mehr: Kairo und Alexandria sind eben nicht Ägypten. Je weiter es nach Süden ging, desto geringer wurde die Wahlbeteiligung. Ist ja kein Wunder, mag nun der geneigte Ägyptenkenner zu bedenken geben, denn Oberägypten ist ja auch Moslembrüder-Land. Ja, ja, es ist schon richtig, dass die Moslembrüder zum Wahlboykott aufgerufen hatten. Aber als sie über ihre eigene Verfassung abstimmen ließen, war die Wahlbeteiligung noch viel miserabler.

Die höchste Wahlbeteiligung überhaupt gab es in Ägypten beim zweiten Durchgang um die Präsidentschaftswahlen. Da lag sie bei 51 Prozent, und es kam zum Showdown zwischen Mursi und Shaffik. Nun gibt es durchaus Menschen, die einfach deshalb an der Demokratiefähigkeit Ägyptens zweifeln, weil die Wahlbeteiligung seit drei Jahren notorisch niedrig ist. Kann das ein Kriterium sein? Nur mal ein Beispiel: In der Schweiz, dem Hort der direkten Demokratie, hat es seit fast 40 Jahren keine Wahl zum Parlament mehr gegeben, in der die Wahlbeteiligung über 50 Prozent lag.

Trotzdem: Das Referendum ist für die provisorische Regierung und General Fatah al Sisi Sieg und Niederlage zu gleich. Es gelang eben nicht, wie erhofft mindestens mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu mobilisieren. Andererseits gab es noch in keiner Verfassung Ägyptens soviel Bürgerrechte und Minderheitenschutz. Doch diese Freiheit wiederum findet ganz schnell ihre Grenzen im Willen des Militärs.

Fazit: Ägypten hat eine gute Verfassung, und wenn die Militärs von ihren eher freiheitsfeindlichen Rechten, die ihnen dieser Verfassung gewährt, möglichst wenig Gebrauch machen, dann wird die Regierung auch das Vertrauen von jenen gewinnen, die dieses Mal nicht zur Wahl gegangen sind. Auch wenn viele dem Militär misstrauen – und es hat in den Wochen vor dem Referendum durchaus Anlass dazu gegeben – so ist die jetzt gebilligte Verfassung per se nicht schlecht, aber eben auch nur ein erster Schritt auf einem langen Weg.

Genau das ärgert mich!

Den Ausgang des Referendums in Ägypten will ich jetzt im Moment gar nicht kommentieren. Das offizielle Ergebnis steht noch nicht einmal fest. Aber wieder ist es der deutsche Qualitätsjournalismus, der des Wasser nicht halten kann und wo unreflektiert schon wieder kompletter Stuss verbreitet wird.

Vor dem Referendum war klar, dass nicht die Höhe der Zustimmung, sondern die Wahlbeteiligung viel aussagekräftiger sein würde. Nun sind die ersten Zahlen inoffiziell genannt worden, und die liegen bei einer Zustimmung von 95 Prozent und einer Wahlbeteiligung von 55 Prozent. Ob sich das alles so bestätigt, lassen wir zu diesem Zeitpunkt einmal dahingestellt.

Spiegel Online hat es einem nachrichtlichen Beitrag unter anderem Folgendes geschrieben: »Allerdings war die Wahlbeteiligung gering, die Islamisten hatten zum Boykott aufgerufen..« Immerhin hat sich der Autor noch verkneifen können zu schreiben, dass die Wahlbeteiligung so gering war, weil die Moslembrüder zum Boykott aufgerufen hatten, aber die Formulierung suggeriert genau das. Und damit wird die ganze Geschichte ziemlich unverschämt.

Aus bundesdeutscher demokratischer Tradion ist eine Wahlbeteiligung von 55 Prozent in der Tat eher dürftig. Aber wenn man sich in Ägypten die Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl, bei der Präsidentschaftswahl und bei dem letzten Verfassungsreferendum anschaut, dann ist die Wahlbeteiligung – so sie sich bestätigt – fast schon ein Rekordergebnis. Und eines ist bei diesem Resultat auch klar: Rein rechnerisch steht die Mehrheit der wahlberechtigten Ägypter hinter der Verfassung, selbst wenn die 45 Prozent, die nicht gewählt haben, alle nur deshalb nicht zur Urne gegangen sind, weil sie dem Boykottaufruf der Moslembrüder folgten.

Jetzt sehen wir uns einmal andere Wahlen an. Da wären die Präsidentschaftswahlen. Im ersten Durchgang erreichte Mursi 24,8 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 46 Prozent. Im zweiten Durchgang, als nur noch zwei Kandidaten zur Wahl standen, gewann er mit knapp 51,7 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 51 Prozent. Damit steht doch zumindest eines fest: Es stehen heute bedeutend mehr Ägypter hinter der neuen Verfassung, als jemals hinter Mursi gestanden haben – einer Verfassung im übrigen, die die Moslembrüder bis aufs Messer bekämpfen.

Dass der Boykott überhaupt erwähnt und in einen Zusammenhang gesetzt wird, ist noch aus einem anderen Grund reichlich unverschämt. Beim letzten Verfassungsreferendum – noch unter Mursi und den Moslembrüdern – hatte die Wahlbeteiligung etwas über 30 Prozent betragen – und das ganz ohne Boykottaufruf der Islamisten.

Wie gesagt: Eigentlich ist es für eine genaue Bewertung der Abstimmung noch viel zu früh. Aber das einstige selbsternannte »Sturmgeschütz der Demokratie« scheint das demokratische Prozedere in Ägypten ziemlich respektlos und arrogant zu betrachten. Vielleicht findet das Hamburger Magazin ja auch irgendwann zu seriösem Qualitätsjournalismus zurück. Aber dieser Schnellschuss des »Sturmgeschützes« war ein krachender Rohrkrepierer für die Demokratie.

Wer die Wahl hat

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob er mich nicht einfach nur testen wollte. Jedenfalls fragte mich mein Fahrer am Samstagabend, ob und was er denn wählen solle. Das wunderte mich schon ein wenig, denn in den letzten zehn Tagen hatte ich ihn nicht nur als überaus pünktlich, sondern auch als recht reflektiert kennengelernt. Mursi hält er für übel, und wenn es einer richten kann, dann wird es wohl Abdel Fatah al Sisi sein. So denken viele Ägypter, vor allem an der Küste, wo seit nun drei Jahren die Touristen fehlen.

Ich antwortete dem Fahrer, dass es ganz wichtig sei zu wählen, schon deshalb, weil dieses Mal die Reihenfolge richtig sei: Erst eine Abstimmung über die Verfassung und dann erst die Wahl des Parlaments. Diese Einschätzung nahm er nachgerade begeistert auf und versprach natürlich, wählen zu gehen – und für die Verfassung zu stimmen.

Hätte die richtige Reihenfolge etwas an dem Ablauf der Geschichte geändert? Ich glaube schon. Dadurch, dass vor zwei Jahren ein Parlament gewählt wurde, das anschließend eine Verfassung verabschieden sollte, konnten sich die Islamisten ihre Konstitution praktisch zurechtzimmern. Eine bereits bestehende Verfassung hätte Moslembrüder und Salafisten möglicherweise Zügel anlegen können.  Nun haben alle gesellschaftlich relevanten Gruppen mit Hand angelegt, um eine neues Grundgesetz zu entwerfen. Es ist nun deutlich demokratischer, weniger auf Religion zugeschnitten und gewährt Minderheiten mehr Schutz und Rechte. Der berühmt-berüchtigte Paragraph 2, der schon unter Anwar al Sadat in »Koran und Scharia sind die Quelle des ägyptischen Rechts« geändert wurde, wurde wieder auf die Nasser-Zeit zurückgefahren, als nur von »einer Quelle des ägyptischen Rechts« die Rede war.

Positiv ist sicher auch zu bewerten, dass die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränkt ist. Eine Dauerherrschaft wie die von Hosni Mubarak sollte also nicht mehr drohen.

Insgesamt wird die Verfassung auch im stets kritischen Westen als demokratischer Fortschritt gewertet. Allerdings gibt’s da ja noch die Passagen, die das Militär stärken. Da hat sich jedoch auch nicht so viel geändert. Das Militär bestimmt selbst den Verteidigungsminister, was allerdings nichts Neues ist. Es bleibt auch dabei, dass der Vertedigungshaushalt geheim bleibt und weder Parlament noch Regierung reinreden können. Neu sind allerdings die Militärtribunale, die nun auch Zivilisten aburteilen können, und das ist dann doch ein herber Wermutstropfen in einer sonst sehr demokratisch anmutenden Verfassung.

Es steht wohl außer Zweifel, dass die Verfassung angenommen wird. Manche rechnen sogar mit einer Zustimmungsrate von 80 Prozent. Soviele werden es vielleicht nicht werden. Problematisch ist vielmehr die Wahlbeteiligung. Bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gingen gerade einmal rund 40 Prozent der Ägypter an die Wahlurnen. Wären es bei der Verfassungsabstimmung wieder weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten, wäre dies eine herbe Niederlage für die Übergangsregierung, den »Rat der 50«, der die Verfassung ausgearbeitet hat, und vor allem für den starken Mann al Sisi.

Die Auslandsägypter haben bereits abgestimmt und stehen zu etwa 90 Prozent hinter der neuen Verfassung. Allerdings haben nur rund 20 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Ob sich das auf das ganze Land übertragen lässt, ist jedoch fraglich.

Doch egal, wie das Referendum ausgeht, eines ist jedenfalls sicher: Die Ägypter haben sich eine neue Verfassung gegeben, und sie stimmen darüber ab. Das haben nach den Wochen im Sommer viele Kritiker bezweifelt. Schade ist allerdings, dass sich der »Rat der 50« nicht mehr Zeit nehmen konnte. Die USA lebten immerhin elf Jahre ohne ihre Constitution. Die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes hatten mehr als ein halbes Jahr Zeit. Dass ausgerechnet diese beiden Länder Ägypten in Sachen Verfassung zur Eile mahnten, ist dann schon ein wenig seltsam.

Das Referendum über die neue Verfassung wird ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratie sein. Wie groß dieser Schritt sein wird, das hängt jetzt davon ab, wieviele Menschen in die Wahllokale gehen. Rund 50 Millionen Ägypter sind wahlberechtigt. Anfang Juli gingen angeblich 30 Millionen auf die Straße, um gegen Mursi zu demonstrieren. Wenn die jetzt alle wählen gingen, läge die Wahlbeteiligung bei 60 Prozent. Und damit könnten sie in Ägypten schon ganz gut leben.

Gute Presse

Ich gestehe: Es gibt Leute, auch Kollegen, die der Meinung sind, ich sei nicht immer ganz objektiv, wenn es um Ägypten gehe. Zumindest würde ich Ägypten dann doch ein wenig zu wichtig nehmen. Ich frage mich dann immer, ob sie das gleiche auch zu ihren Kollegen in der Autoredaktion sagen würden. „He, Kumpel, ich glaube, du nimmst Autos einfach zu wichtig!“ Ja, meine Güte, über was soll er als Autoredakteur denn sonst schreiben? Über Brezeln? Dann wäre er bei der „Bäckerblume“! Und so ist es eben auch bei mir. Ich habe vier Bücher über den Tourismus in Ägypten geschrieben, wie sollte ich Ägypten dann nicht wichtig nehmen? Soll ich mich jetzt auf Spitzbergen spezialisieren?

Umstritten im Kollegenkreis: Die einwöchige Pressereise ans Rote Meer. Foto: psk

Umstritten im Kollegenkreis: Die einwöchige Pressereise ans Rote Meer. Foto: psk

Die Reise nach Ägypten war im Kollegenkreis durchaus nicht unumstritten. Es gab bei den Reisejournalisten Kollegen, die stellten sich schlicht auf den Standpunkt, dass in ihrem Reiseteil Ägypten derzeit nicht vermittelbar ist. Andere mutmaßten, dass es sich ja hier nur um eine groß angelegte Propagandafahrt des ägyptischen Tourismusministeriums handeln könnte. Ja! Und? Sind nicht alle Pressereisen Propagandafahrten der jeweiligen Veranstalter? Dafür sind wir Journalisten, um genau mit solchen Dingen umzugehen. Wenn der VW-Konzern an einem milden Frühlingswochenende ausgewählte Motorjournalisten zu einer Probefahrt des neusten Modells nach Marbella einlädt (inlusive Flug und Hotel), dann macht das VW auch nicht deshalb, damit die Journalisten ganz besonders kritisch und genau hinsehen. Trotzdem wäre es wahrscheinlich eine berufliche Fehlentscheidung, an solch einer Reise nicht teilzunehmen.

Nun kenne ich niemanden aus meinem beruflichen Umfeld, der jemals einen Kollegen dafür kritisiert hätte, an Pressereisen oder den in der Branche aus guten Gründen so beliebten und gefürchteten Bilanzpressekonferenzen teilzunehmen. Aber offenbar scheint die ägyptische Krise viele Mechanismen bei der schreibenden Zunft außer Kraft zu setzen. Ich habe mich an dieser Stelle schon das eine oder andere Mal darüber gewundert, was die deutschen Korrespondeten in Kairo sehen und was sie nicht sehen wollen. Selektive Wahrnehmung führt schließlich auch zu selektiven Urteilen. Aber nun denn – sie müssen es selbst wissen.

Bei der Informationsreise für Reisejournalisten war zunächst ziemlich unübersehbar, dass doch einige Fachmedien diese Reise ungenutzt ließen. Das ist, in der besonderen Situation, in der Ägypten steckt, schon für sich genommen ein sehr erstaunlicher Akt. Er ist eigentlich nur darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die der Einladung nicht folgten, Ägypten bereits als Reiseland abgeschrieben haben und es somit auch nicht mehr als in ihren Zuständigskeitsbereich gehörend betrachten. Auf dem Standpunkt kann man ja stehen. Ich halte ihn für ziemlich zynisch und unreflektiert.

Doch was ich dann in Ägypten erlebte, verschlug mir dann doch die Sprache. Da wurde der mitreisende Journalist eines Internetmediums mit dem Facebook-Posting eines Kollegen eines großen Tauchmagazins konfrontiert. Der schrieb dem Kollegen, dass solch eine Reise sicher „nett für Hobby-Journalisten“ sei, aber dass sich ernsthafte Journalisten von solch einer Reise fernzuhalten hätten. Solche Reisen würden ja eh nichts bringen. Nun könnte man in diesem Fall von einem tragischen Einzelfall sprechen, wenn nicht gerade im Umfeld der ägyptischen Krise manch merkwürdige journalistischen Dinge geschähen, die so gar nichts mehr mit dem zu tun haben, was ich vor 30 Jahren in meinem Tageszeitungsvolontariat mal gelernt habe (was ich bis zum heutigen Tag für einen der besten und ehrlichsten Wege in den Journalistenberuf halte).  Aber jemand der sich – auch noch coram publico – auf solche Weise an einen Kollegen wendet, stellt damit genau drei Dinge unter Beweis: 1. Er ist völlig arrogant und würdigt andere Kollegen herab. Schlau ist das jedenfalls nicht. 2. Er ist dumm, weil er sich freiwillig Informationsquellen beraubt, die er ja nicht kennenlernen kann, wenn er sich nicht an der Reise beteiligt. 3. Er ist ein lausiger Journalsit, weil er es offensichtlich für unmöglich hält, innerhalb von einer Woche selbst journalistisch wertvolle Quellen zu erschließen.

In dem genannten Fall sprechen wir jetzt „nur“ von Reisejournalisten. Ich weiß aus eigener, leidvoller Erfahrung, wie ich bei anderen Fachressorts in den letzten beiden Jahren vor die Wand gelaufen bin. Andererseits sehe ich Korrespondenten in deutschen Leitmedien schreiben, die in ihrer gesamten Zeit in Ägypten offensichtlich noch nie ein freundliches Wort für das Land übrig hatten. Andererseits hat der Spiegel nun den allseits hochgeachteten und in ägyptischen Belangen nahezu unantastbaren Chef der Auslandspressepresse, den 76jährigen Volkhard Windfuhr, aus dem Impressum entfernt. Der hatte in einer Pressemitteilung seiner Wut darüber Luft gemacht, dass die ausländischen Medien ausschließlich die Repressalien des Staatsapparats im Blick hätten, die Schandtaten des Moslembrüder aber ausklammerten. Windfuhrs Pech war, dass ausgerechnet zu jener Zeit ein Spiegel-Kollege festgenommen worden war.

Es ist auch verwunderlich, dass das ZDF in seiner Berichterstattung über die Ereignisse in Ägypten (laut eigener Mediathek) ihren ausgewiesensten Experten, Dietmar Ossenberg, zum letzten Mal am 12. Juli zu Wort kommen ließ. Dabei lässt sich dem ehemaligen Leiter des Auslandsjournals ganz bestimmt nicht einseitige Berichterstattung vorwerfen. Er ist in der Vergangenheit für seine Ausgewogenheit stets hoch geschätzt worden. Ob sie inzwischen noch immer gewollt ist? Ich weiß es nicht.

Wir sind im Westen immer schnell dabei, Ägypten auf seiner Suche nach einer stabilen Demokratie schlaue Ratschläge zu geben. Eine freie Presse gehört sicher dazu – und hier hat sich, allen Beteuerungen zum Trotz, noch kein Regime in Ägypten hervorgetan, auch das derzeitige nicht. Aber eine stabile Demokratie braucht auch eine ausgewogene und faire Presse – und dafür kann die westliche Presse mit ihrer Berichterstattung über Ägypten derzeit eher kein Vorbild sein.

Die Mär vom Militärputsch

Es war ein faszinierender Abend in der Berliner Urania. Eingeladen hatte der ägyptische Botschafter Mohamed Hagazy zu einem Konzert des Light-and-Hope-Orchestra. Das besondere an diesem Symphonieorchester ist: Es besteht aus 50 blinden Frauen aus Ägypten. Ohne Notenblätter und ohne einen Dirigenten am Pult ein zweistündiges Konzert zu geben, ist schon eine ganz erstaunliche Sache.

Das Light-and-Hope-Orchestra in der Berliner Urania. Foto:psk

Das Light-and-Hope-Orchestra in der Berliner Urania. Foto: psk

Es hätte eine dieser positiven Nachrichten sein können, die Ägypten so dringend braucht. Doch natürlich wurde auch an jenem Abend vor der Urania von einer Handvoll Demonstranten gegen den vorgeblichen Militärputsch protestiert. Einer hatte es auch in den Saal geschafft, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er das wunderbare Konzert nicht gestört hat. Nach dem frenetischen Applaus und den Standing Ovations schaffte es der Demonstrant auf die Bühne – und bedankte sich zunächst sehr lautstark für das schöne Konzert, lobte Ägypten. Da schallte ihm noch ein vielstimmiges, wenn auch leicht verwirrtes „Shukran“ entgegen. Als er aber dann auf die 50 Toten vom Vortag zu sprechen kam, wurde er fix von der Bühne entfernt. Botschafter Hagazy rettete die Situation und den Abend kurzerhand damit, dass er ein ägyptisches Volkslied anstimmte, das der ganze Saal begeistert mitsang.

Das wäre es doch, wenn das ganze Land seine Proteste, seine Probleme und seine Gewalt einfach wegsingen könnte. Mich persönlich würden die Proteste der verbliebenen Moslembrüder weit mehr überzeugen, wenn sie statt Knarren Blumen in der Hand hätten. Soll jetzt niemand sagen, dass sie sich damit nicht gegen Polizei oder Militär wehren könnten. Wenn sie nämlich sowieso für ihre Überzeugung sterben wollen, ist es doch letztlich völlig egal, was sie in der Hand haben. Und Gewaltlosigkeit war am Ende dort allemal erfolgreicher, wo Jahrzehnte des Blutvergießens nichts gebracht hatten – siehe Indien.

Doch so lange die Mär vom Militärputsch weiter Verbreitung findet, so lange wird das wohl auch nichts mit der Gewaltlosigkeit. Mit dem Verweis auf den Militärputsch rechtfertigen die Moslembrüder ja ihrerseits ihre Gewalt. Doch jeder der dieses Wort vom Militärputsch so locker im Munde führt – und das sind längst nicht nur Moslembrüder – hat bislang offensichtlich einen völligen Widerspruch in der jüngsten Ägyptischen Geschichte gar nicht auf dem Schirm. Wenn das nämlich ein Putsch war, was war dann die glorreiche Revolution von 2011? Vergleichen wir mal beide Ereignisse:

2011 begannen die Proteste am 25. Februar. Das Militär verhielt sich zunächst neutral. Am 11. Februar wurde Hosni Mubarak von den Militärs zum Rücktritt gezwungen, die anschließend die Macht in Form des SCAF, des obersten Militärrats, übernahmen. Sie gaben sie anderthalb Jahre auch nicht wieder her.

2013 begannen die Proteste am 30. Juni. Die offensichtliche Mehrheit des Volkes forderte Neuwahlen. Das Militär verhielt sich nicht neutral, schloss sich den Forderungen an. Mursi flüchtete sich in eine Kaserne (er wurde nicht mal irgendwo festgenommen) und wurde dort festgehalten. Der Oberbefehlshaber beruft einen runden Tisch ein und bestimmt den obersten Richter Adli Mansur, einen Zivilisten, zum neuen Präsidenten.

Wenn man beide Sachverhalte miteinander vergleicht, was war dann wohl eher ein Militärputsch? Nach der Ereignissen von 2011 wurden die Ägypter von der ganzen demokratischen Welt gelobt, 2013 von den gleichen Leuten kritisiert. Mir erscheint das ein wenig absurd. Mit Sicherheit gibt es einiges, was am Ägyptischen Militär zu kritisieren ist – vor allem, dass es nicht kritisiert werden darf. Aber eines ist auch klar: Ägypten ist nicht Argentinien oder Chile. Die Bedeutung und die Stellung des Militärs in der Gesellschaft ist eine ganz andere, als in anderen Ländern. Ich versuchte das schon einmal in den Blogbeiträgen „Die Macht der Generale“ und „Armee in der Falle“ zu beschreiben.

So lange die große Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Militär steht, haben die demokratischen Kritiker im Grunde auch schlechte Karten. Aber wie schnell sich Mehrheiten ändern können, hat man gerade in Ägypten besichtigen können.

Nimmt das kein Ende?

TAL DER KÖNIGE: mittags um drei, absolut menschenleer.   Foto: psk

TAL DER KÖNIGE: mittags um drei, absolut menschenleer. Foto: psk

Das ägyptische Fremdenverkehrsamt hatte deutsche Journalisten zu einer Pressereise eingeladen, in der Hoffnung jetzt auch mal wieder positive Schlagzeilen zu erzeugen. Am Mittwoch kam die Gruppe zurück, mit sehr unterschiedlichen Eindrücken. In der Tat ist es schon ziemlich erschütternd, vor einem völlig menschenleeren Tal der Könige zu stehen. Immerhin keimte Hoffnung auf in diesen Tagen. Die Reisewarnung war erheblich entschärft worden. Selbst Europas größter Reiseanbieter TUI hatte sich als letzter entschlossen, nun doch wieder Reisen nach Ägypten anzubieten. Und nun das: Über 50 Tote bei Straßenschlachten in Kairo und in anderen Städten.

Die Frage stellt sich automatisch: Warum gerade jetzt? Vorab: Mit der entschärften Reisewarnung und der möglichen Rückkehr der Touristen haben die Ausschreitungen gar nichts zu tun. Der 6. Oktober ist ein sehr symbolträchtiger Tag. Es ist der Nationalfeiertag, an dem des (vermeintlichen) Sieges über die Israelis gedacht wird. Der Ausbruch des Ramadan-Krieges (oder wie er bei uns heißt: Jom-Kippur-Krieg) jährte sich gestern zum 40. Mal. Es war völlig klar, dass die Moslembrüder an diesem Tag ihre Macht zeigen würden. Das Problem ist nur, dass sie nichts mehr zu zeigen haben. Wieder hatten sie von Millionen schwadroniert, die für Mursis Freilassung auf die Straße gehen würden. Ein paar wenige Tausend sind es geworden. Das hat im übrigen jetzt auch die ARD begriffen. Wenn es so wenig Demonstranten und vergleichsweise soviele Tote gab, liegt der Gedanke an brutale Polizeigewalt immer nahe. Doch hier gilt es eines zu bedenken. Die Moslembrüder haben sich in den letzten Monaten immer stärker auf ihren Gründer Hasan al-Bana besonnen, der seinen Anhängern ins Stammbuch schrieb, dass sie nicht so am Leben hängen, sondern lieber für Allah und den Islam sterben sollten. Seine Schrift: „Die Todesindustrie“ begründete den modernen islamistischen Terror. Wenn man in den letzten Wochen die Ansprachen der MB-Führer wie Mohammed Badi’e (der inzwischen im Knast sitzt) gehört hat, dann war es genau die Sprache Hasan al Banas. Die, die jetzt noch den Aufrufen zu Demonstrationen der Moslembrüder folgen, sind nun wirklich der harte Kern, die an alles glauben, auch daran, dass es ganz besonders ehrenvoll ist, auf dem Pflaster von Kairo in seinem Blut für Mursi zu verrecken. Wenn die Moslembrüder überhaupt noch über so etwas wie Macht verfügen, dann ist es das Body-Counting nach den Demonstrationen.

Heute morgen haben die MB schrill eine internationale Untersuchung der Straßenschlachten gefordert. Nehmen wir mal an, die momentane Regierung würde sagen: Ja, tolle Idee, das machen wir. Was würde dann passieren? Die Moslembrüder würden sofort krakelen, dass dies eine unerhörte Einmischung in innere Angelegenheiten sei und dass die Regierung das Land an ausländische Agenten verkauft habe. Es folgten wieder blutige Ausschreitungen.

Es gibt noch immer Menschen, auch und gerade in Deutschland, die es für eine schreiende demokratische Ungerechtigkeit halten, dass den Moslembrüdern mit Gewalt die Macht entrissen wurde. Nun ja, in Deutschland werden die Moslembrüder auch nicht gerade als lupenreine Demokraten betrachtet. 1.800 zählte man in Deutschland 2005. Und deren Gedankengut sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, sagt der Verfassungsschutz.

Dass die Moslembrüder in Ägypten als Organisation verboten worden sind, ist letztlich nur folgerichtig. Jede Gruppierung die in Deutschland solche Hetze betreibt, wird ebenfalls ganz schnell verboten. Im übrigen: Die Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“, also die Partei der Moslembrüder, ist nach wie vor erlaubt. Sie wird mit Sicherheit auch bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr antreten und vermutlich sogar zwischen zehn und 20 Prozent der Stimmen einsammeln.

Trotzdem sollte der Spuk mit den Moslembrüdern jetzt bald vorbei sein. Spätestens nach der Besetzung der Moschee am Ramsesplatz, als Bewaffnete von den Minaretten wahllos in die Mensche schossen, haben die Brüder auch enorm viel Sympathien bei ihren konservativen Anhängern in Oberägypten verloren. So etwas tut ein anständiger Moslem nicht.

Die Unruhen und die Toten von gestern werden nicht die letzten gewesen sein. Doch es werden immer weniger werden. Ägypten wird zur Ruhe kommen, die das Land jetzt so dringend zum Neuanfang braucht. Mancher fürchtet nun eine Militärdiktatur. Tatsächlich gibt es Anzeichen, die nichts Gutes verheißen, andererseits macht die jetztige Regierung auch sehr viel richtig. Dass die Verfassungsgebende Versammlung nun ihr Werk vor den Parlamentswahlen beendet und es eine Verfassung vor dem Urnengang geben soll, ist sicher sehr vernünftig. Der Weg zur Demokratie ist sicher noch lang und steinig, aber zumindest scheint die Richtung jetzt erst einmal zu stimmen.

Doch auch, wenn die Pessimisten Recht behalten sollten und Ägypten zu einer Militärdiktatur werden sollte, dann dürfte die, aufgrund der im Grunde zivilen Struktur der Armee, eher milde als brutal ausfallen. Jedenfalls wäre sie das deutlich kleinere Übel, als ein faschistoider Staat, den die Moslembrüder im Begriff waren zu errichten.

Gruppenbild mit Mumie

Aus gegebenem Anlass gibt es hier an dieser Stelle zur Abwechslung einmal eine Fernsehkritik. Am Donnerstag war Mazen Okasha, der auch in Koulou Tamam, Ägypten? eine durchaus wichtige Rolle spielt, zu Gast bei Maybrit Illner. Der Mitbegründer der ägyptischen Sozialdemokraten und Chef der Fremdenführergewerkschaft am Roten Meer hatte schon drei Tage zuvor bei einem Interview im Morgenmagazin des ZDF daheim in Ägypten für großes Aufsehen gesorgt, als er persönlich von Reisen ans Rote Meer abriet und im übrigen der derzeitigen Regierung jegliche Legitimation absprach.

Ägypten-Talk im ZDF: (v.l.n.r.) Philipp Mißfelder, Peter Scholl-Latour, Maybritt Illner, Hamed Abdel-Samad, Luban Azzam, Mazan Okasha

Ägypten-Talk im ZDF: (v.l.n.r.) Philipp Mißfelder, Peter Scholl-Latour, Maybritt Illner, Hamed Abdel-Samad, Luban Azzam, Mazan Okasha

Was in Ägypten momentan wohl allenfalls als Minderheitenvotum gilt, war bei Maybrit Illner dagegen die Mehrheitsmeinung. Neben Mazen Okasha saßen die Politologin Lubna Azzam, der CDU Politiker Philipp Mißfelder, der Autor und Journalist Hamed Abdel-Samad und der wohl unvermeidliche Peter Scholl-Latour. Einzig Abdel-Samad vertrat offensiv das, was in Ägypten derzeit wohl die Mehrheit des Volkes glaubt. Bei der Anmoderation schien es so, als sei ausgerechnet Philipp „Hüftgelenk“ Mißfelder dem Journalisten noch an die Seite gestellt worden, damit er seine Position nicht so ganz alleine vertreten muss. Doch der ehemalige Vorsitzende der Jungen Union, der seit seiner Forderung, älteren Menschen keine künstlichen Hüfgelenke mehr einzusetzen, als das Paradebeispiel des kaltherzigen Politikers gilt, hatte so gut wie gar nichts Substanzielles zur Diskussion beizutragen – außer vielleicht, dass er persönlich Mohammed Mursi offenbar für ein Brechmittel hält.

Am erstaunlichsten schien dann doch Peter Scholl-Latour, die Edelmumie deutscher Talkshows. Seine Auftritte werden von mal zu mal bizarrer. Ich selbst habe von Scholl-Latour in meiner Jugend viel gelernt. Er hat mir den Vietnamkrieg erklärt und auch das Interesse für die islamische Welt geweckt. Und jener Peter Scholl-Latour hat die Stirn zu behaupten, dass die Moslembrüder nichts mit der Gamaa al Islamiyya oder mit dem Dschihad zu tun haben. War es nicht eben jener Scholl-Latour, der als einer der ersten im Westen erklärte, wer Hassan al Bana, der Begründer der Moslembrüder, war? Und war es nicht die Märtyrer-Logik des Hassan al Bana, die den Weg zum islamistischen Terror ebnete? Und sind es nicht die Moslembrüder, die sich jetzt genau wieder dieser Märtyrer-Rhetorik bedienen? Für einen, wie Hamed Abdel-Samad muss dieser Abend nur sehr schwer erträglich gewesen sein. Immerhin hat es gegen ihn am 5. Juni einen Mordaufruf gegeben – von Anhängern des inzwischen gestürztem Präsidenten Mursi. Der hatte sich nie von dem Mordaufruf distanziert. Dieser Umstand wurde an jenem Abend, an dem es soviel um Freiheit und Demokratie ging, mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht von der Moderatorin Maybrit Illner.

Als sich Scholl-Latour wieder einmal hinter seinem immensen Schatz an Wissen und Anekdoten verschanzte, explodierte Abdel-Samad förmlich und warf dem einstigen Nahost-Korrespondenten vor, mit seinem Denken im Kalten Krieg stecken geblieben zu sein. Das Publikums beklaschte es laut und Scholl-Latours Miene versteinerte in einem Maße, dass es schien, er halte den Nichtvollzug des nämlichen Aufrufes für einen schweren Fehler.

Auch Mazen Okasha ging auf den Mordaufruf nicht ein. Er musste sich aber von Abdel-Samad fragen lassen, warum er vor dem 30. Juni auf seinere Facebook-Seite Werbung für Tamarod gemacht, nach dem Machtwechsel aber das Militär verteufelt habe. Der bestritt das vehement, doch Abdel-Samad behauptete, er habe die fraglichen Einträge inzwischen gelöscht (Ich kann es leider nicht beurteilen, weil die Postings von Mazen Okasha weitgehend arabisch sind.).

Die Einspieler waren nun auch nicht gerade von großer Ausgewogenheit getragen. Mir erschien das Ganze dann doch ein wenig nach dem politischem Mainstream ausgerichtet, der da lautet: Ja, es war ein Militärputsch, aber ihr müsst alle miteinander reden. Die Antwort auf die eine und entscheidende Frage blieben Scholl-Latour, Azzam und Okasha schuldig: »Mit wem soll man denn reden, wenn sich der andere dem Gespräch konsequent verweigert?«

Was hat uns der Abend gelehrt? Vielleicht, dass Peter Scholl-Latour mittlerweile in Talk-Shows etwa den Peinlichkeitsgrad erreicht hat, wie Udo Lattek im Fußball-Talk »Doppelpass«, den man vor zwei Jahren fast operativ aus der sonntäglichen Runde entfernen musste?

Viele Freunde und Bekannte in Ägypten fragen sich, ob sich der leidenschaftliche Demokrat Mazen Okasha, der sich um die politische Bildung vor allem am Roten Meer wirklich verdient gemacht hat, inzwischen ein Moslembruder geworden ist. Ich glaube das nicht. Zwar teile ich seine Meinung nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie sie sich entwickelt hat. Wenn jemand soviel Zeit und Passion in den Aufbau der Demokratie steckt, wie er, dann sieht er möglicherweise einen Teil seines Lebenswerks zerstört, wenn demokratische Strukturen zerbrechen. Für ihn persönlich ist das alles sicherlich ein großes Drama. Zudem wird er nach seiner Rückkehr mit Repressionen rechnen müssen – was natürlich zutiefst undemokratisch wäre. Da gilt einfach Rosa Luxemburgs Satz, dass die Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sein muss.

Tja – könnte man nun sagen – muss das nicht auch für Muslembrüder gelten? Auf jeden Fall. Das Problem ist eben nur, dass die MBs jeden, der anders denkt, mit dem Tode bedrohen. Das haben sie sogar getan, als Mursi noch an der Macht war.

Den für mich wichtigsten und bedeutsamsten Satz dieses Abends sprach Hamed Abdel-Samad, auf Mybrit Liiners Frage, was denn nun mit der Demokratie in Ägypten werde. Da sagte er: »Demokratie ist eine Bestimmung, keine Option.« Recht hat er.

Die Macht der Generale

Die Frage kommt, aber leider viel zu selten. Manchmal fragen mich Leute: „Woher kommt eigentlich die große wirtschaftliche Macht der Militärs in Ägypten?“ Komisch eigentlich. Man kann sich ja durchaus mal die Frage stellen, warum sich eine riesige Armee nicht auf ihre Kernkompetenz beschränkt und einfach Armee ist. Im Gegenteil: gerade ihre Kernkompetenz scheint ja völlige Nebensache zu sein. Gerade die, die am lautesten beklagen, dass die Armee nun wieder die Strippen zieht, haben sich offenbar mit dieser Grundfrage noch nie beschäftigt. Dabei könnte sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sein.

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

Die Ursprünge für diese wirtschaftliche Machtfülle dürften bei Gamal Abdel Nasser liegen. Mit der Gruppe der „Freien Offiziere“ putschte er 1952 König Faruk von der Macht, die er zwei Jahre später entgültig an sich riss. Nasser hatte eine ganz klare Leitlinie, und die hieß Unabhängigkeit. Nach der Quasikolonialzeit unter den Briten suchte Nasser für Ägypten die bedingungslose Unabhängigkeit, nicht nur staatlich, sondern auch diplomatisch und vor allem wirtschaftlich. Mit dem Regierungschefs von Indien und Jugoslawien, Nehru und Tito gründete er die „Blockfreien Staaten“. Die wollten im kalten Krieg weder von den Amerikanern noch den Sowjets abhängig sein.

Wenn man allerdings über eine rückständige Industrie, wie Ägypten verfügt, ist es relativ schwierig wirklich wirtschaftlich unabhängig zu sein. Trotzdem forderte Nasser von seinem Land die völlig Autarkie: „Von der Nähnadel bis zur Atomrakete“ müsse alles im Land selbst hergestellt werden. So wird die Sache schnell klar: Wenn Autarkie Staatsziel wird, dann muss im Zweifel auch die Armee ran, um dieses Staatsziel zu erreichen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass Nasser seine Ziele jetzt nicht unbedingt zu hunderprozent umsetzen konnte. Um ehrlich zu sein, ist er mit seinen Projekten, abgesehen vom Nasserstaudamm ziemlich kläglich gescheitert. Am Ende landete er in sowjetischer Abhängigkeit und was von der ägyptischen Autoindustrie übrig geblieben ist, ließ sich vor ein paar Jahren noch beim Minibusfahren in Hurghada besichtigen. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht – ja nach dem – mit Entsetzen oder Erheiterung an die Eltramco Busse. Was blieb, war ein immer weiter wachsendes Wirtschaftsimperium des Militärs. Nur warum wuchs es nur? Ganz einfach: Es dient bis zum heutigen Tag der wirtschaftlichen Absicherung ausgeschiedener Militärs.

Jeder, der verlangt, dass die Militärs ihrer wirtschaftlichen Macht entsagen, muss zwangsläufig auch eine Antwort darauf finden, wie er die daraus folgenden schweren sozialen Verwerfungen verhindern will. Es geht ja nicht nur darum, dass ein paar Generale in den Ruhestand versetzt werden.

Genau so wenig, wie der Westen eine Antwort darauf hatte, was die Alternative zur Räumung der MB-Lager in Kairo gewesen wäre, hat er natürlich eine darauf, was mit dem, zum Teil ja maroden, Wirtschaftsimperium der Generale werden soll. Gerade wir in Deutschland haben ja erlebt, was es heißt, eine marode Industrie zu übernehmen. Nun sind die sozialen Grundlagen in Ägypten deutlich schwächer, als sie in der DDR 1990 waren.

Dass sich der Westen auf recht unsachliche Weise mit den derzeitigen Umständen in Ägypten auseinandersetzt, führt zu der paradoxen Situation, dass die Macht des Militärs nicht gemindert, sondern gestärkt wird. Mit jedem kritischen Wort aus dem Ausland wächst die Sympathie für Abdel Fatah al Sissi. Interessanter ist aber ein anderes Phänomen: Die ägyptische Jugend entdeckt gerade ein neues Idol, so hört man: Gamal Abdel Nasser. Ob das dem Westen gefällt lassen wir mal dahingestellt. Aber er hat sicher selbst dazu beigetragen.

Wenn Beschwichtigung zum Brandsatz wird

Mir scheint das alles ein wenig absurd zu sein. Ehe die Protestlager der Moslembrüder geräumt wurden, hat die aktuelle Regierung sechs Wochen lang immer wieder Gesprächsangebote an die Moslembrüder gemacht, die sich jedem Gespräch komplett verweigert haben. Trotzdem wurde die provisorische Regierung sowohl von den USA, als auch von der Bundesrepublik beständig kritisiert und zu Verhandlungen gemahnt. Einer der renommiertesten Diplomaten in Deutschland ist Jürgen Chrobog. Er ist selbst mit einer Ägypterin verheiratet, war der Büroleiter von Hans-Dietrich Genscher und Außenstaatssekretär unter Joschka Fischer. Ach ja, Botschafter in den USA war er auch noch. Der Mann versteht also etwas von seinem Job.  Und er sagt sehr Erstaunliches: »Die ständige Kritik und auch die relative Unterstützung der Moslembrüder heizt eigentlich mehr den Konflikt an, als dass es ihn ausgleicht.«

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Tatsächlich verbitten sich immer mehr Ägypter eine Einmischung von außen. Die Facebookseite Friends of Egypt hat nun sogar eine »Nachricht an die ganze Welt« verbreitet, das Ausland möge sich doch bitte zurückhalten. Die Verbitterung wächst – und das Gefühl, es mit falschen Freunden zu tun zu haben. Mancher meint, dass sich das Land lieber einer Diktatur der Moslembrüder hätte ausliefern sollen, als Mursi von der Macht zu vertreiben. Dabei sind ja viele Ägypter, die mit Mursi gar nichts am Hut hatten, todtraurig darüber, dass das erste demokratische Experiment mit einem gewählten Präsidenten so kläglich scheiterte.

Angesichts von mehr als sechshundert Toten fällt es natürlich sehr schwer, sich zurückzuhalten. Aber viele Ägypter sehen das ganz anders. Ein ägyptischer Soziologe etwa meinte: »Bei uns sterben jedes Jahr 30.000 Menschen im Straßenverkehr. Darüber regt sich niemand auf.« Tatsächlich scheint das Mitleid mit den Moslembrüdern, die nun versuchen, ein ganzes Land in Geiselhaft zu nehmen, in Ägypten selbst nicht mehr besonders ausgeprägt zu sein.

Dass El Baradai die Räumung der Camps zum Anlass nahm, seinen Rücktritt einzureichen, wirft ein weiteres Schlaglicht auf die völlig unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse. Während Außenminister Guido Westerwelle den Schritt des ihm freundschaftlich verbundenen Nobelpreisträgers nach eigenen Worten verstehen und nachvollziehen kann, betrachten viele Ägypter El Baradais Rückzug als ziemlich feige Fahnenflucht. Mehr noch – sein Rückzug und die verständnisvollen Worte des deutschen Außenministers bestätigen nur den Eindruck, den viele Ägypter von El Baradai schon seit zweieinhalb Jahren haben: Er ist ein wendischer, rückgratloser Politiker, der an den Fäden des Westens hängt.

War die blutige Räumung der Protestcamps wirklich so nötig? Tatsächlich wurde ja kurz der alberne Versuch unternommen, die Räumung zu einem Kairoer Kommunalproblem herunterzuspielen. Die Camps müssten deshalb sofort geräumt werden, weil sie wichtige Verkehrsverbindungen blockierten.

Tatsächlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Räumen oder Aushungern. Doch was wäre passiert, wenn man sich fürs Aushungern entschieden hätte? Wenn die Moslembrüder in einer Woche kleine, vom Tod gezeichnete Kinder präsentiert hätten oder elend verdurstete Frauen? Die Schuld wäre ja wieder nicht den Moslembrüdern gegeben worden, sondern der provisorischen Regierung – warum auch immer.

So traurig es klingt: Aber die derzeit Herrschenden am Nil sind von dem Moslembrüdern in eine Wahl hineingetrieben worden, die irgendwo zwischen Pest und Cholera liegt. Natürlich sehen die, die mit Bulldozern auffahren, vor der Welt immer schlechter aus, als die, die nur mit Steinen werfen. Es wäre ja leicht zu sagen: Das haben sie jetzt von ihrem Putsch. Andersherum: Erst durch den Umsturz sieht ja die Welt, zu was für rigorosen Handlungen die Moslembrüder fähig sind. Es werden wieder friedliche Tage in Ägypten einkehren und das hoffentlich bald – aber ich fürchte, dass bis dahin noch einiges Blut vergossen wird.

Meiner ist größer

Vor Jahren stand ich einmal fasziniert vor einem Fernseher in Ägypten und verfolgte eine arabische Soap. Ich verstand fast kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Große Gesten, laute Worte und rollende Augen taten das ihre. Es hatte schon etwas von einem lärmenden Stummfilm. In genau so etwas fühle ich mich derzeit hineinversetzt, wenn ich sehe, was in Kairo abläuft. Aber Ägypten besteht ja nicht nur aus Kairo und Alexandria.

Als ich nun in der ersten Juli-Hälfte eine Woche in Ägypten war, habe ich da unten um Marsa Alam herum von der aktuellen Situation sehr wenig mitbekommen. Aber das wenige hat mich schon nachdenklich gemacht. Da war zum Beispiel das Gespräch mit einem ägyptischen Tauchlehrer, der alles andere als ein Anhänger der Moslembrüder ist. Und er zeigte sich einfach nur traurig darüber, dass das Experiment mit dem ersten frei gewählten Präsidenten des Landes so endet. Mit dieser Meinung steht er nicht allein. Für viele überzeugte Demokraten ist der Sturz Mursis eine Bankrotterklärung der ägyptischen Demokratie. Ich selbst teile diese Einstellung nicht. Natürlich nicht, denn ich glaube, dass sich das ägyptische Volk im richtigen Moment gewehrt hat, so wie sich vielleicht das deutsche Volk spätestens im April 1933 gegen Hitler hätte wehren müssen, nachdem offenbar wurde, was das Ermächtigungsgesetz bedeutet. Auch auf die Gefahr hin, dass man nun mault und behauptet: „Jetzt packt der auch noch die Nazikeule aus“, bleibe ich dabei: Die Rechte, die sich Mursi aneignen wollte, beinhalteten genau das, was die Nazis mit den Ermächtigungsgesetzen durchgepeitscht hatten – und dass die Moslembrüder inzwischen für eine wahre Pogromstimmung gesorgt hatten, will ja wohl auch niemand ernsthaft bestreiten. Trotzdem verstehe ich, dass jemand, der zum ersten Mal die Demokratie wirklich geschmeckt und gefühlt hat, betrübt darüber sein kann, dass der gewählte Präsident von Militärs entmachtet wird. Ich denke auch, dass man diese Bedrückung auch ernst nehmen sollte.

ALLGEGENWÄRTIG: Überall flattern derzeit Ägyptische Fahnen, wie hier in Marsa Shagra.

Allgegenwärtig: Überall flattern derzeit ägyptische Fahnen, wie hier in Marsa Shagra.

Eine andere Erfahrung hat mich dagegen sehr stutzig gemacht. Am 14. Juli fuhr ich von Marsa Shagra zurück nach Hurgahda. An keiner einzigen Tankstelle habe ich eine Warteschlange gesehen. Ich glaube nun nicht, dass dieses Phänomen mit dem Ramadan zusammenhängt. Vielmehr erinnerte es mich an die Erzählungen meiner Eltern von der Währungsreform 1948. Seit Kriegsende waren die Schaufenster leer gewesen. Doch mit der Einführung der D-Mark füllten sie sich über Nacht. Diesel und Benzin waren also wohl die ganze Zeit da. Nur, wo war das Zeug versteckt?

Und? Hat es Abdel Fatah al Sissi bislang gut gemacht? Dass er bis auf die Moslembürder alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in ein Boot gebracht hat, ist schon nahezu sensationell. Dass Saudi Arabien fünf Milliarden Euro rübergeschoben hat und die Salafisten unmittelbar danach wieder ganz friedlich waren, wird wohl auch irgendwie zusammenhängen. Die Saudis haben ihr Projekt „Gottesstaat Ägypten“ (so sie es je hatten) erstmal hintangestellt. Ein Bürgerkrieg in der Region reicht ihnen – zu recht. Vielleicht sind sie ja von Sissi überzeugt worden.

Aber das, was er in dieser Woche veranstaltet hat, besitzt bestenfalls Comic-Niveau. Der Aufruf an die Ägypter, jetzt auf die Straße zu gehen, um dadurch ein hartes Durchgreifen gegen die Moslembrüder zu legitimieren, ist ja schon ziemlich krass. Vor allem zeigt er damit völlig unnötig Schwäche. Im Prinzip ist es doch ganz einfach: Entweder die Moslembrüder haben gegen die bestehenden Gesetze verstoßen und tun das weiterhin, dann soll man sie einfach festnehmen und gegebenenfalls verurteilen. Wenn sie aber nicht gegen die bestehenden Gesetze verstoßen, dann ist ein gewaltsames Vorgehen ein Unrecht – egal wieviele Demonstranten al Sissi mobilisieren kann.

Ich persönlich glaube ja, dass Sissi mit dem Demonstrationsaufruf in erster Linie mal den Moslembrüdern zeigen wollte, um wieviel mehr Menschen er mobilisieren kann, als die Brüder. Es hat so etwas von spielenden Jungs. „Aber meiner ist größer, ätsch“. Leider ist der Einsatz für solch pupertäre Spielchen ziemlich blutig.

Vielleicht ist es aber auch eine Panikreaktion. Von vielen unbemerkt ist die Situation auf dem Sinai inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass die Moslembrüder schon seit geraumer Zeit dort richtig mitmischen – und dass die längst totgesagte Gamma al Islamiyya dort wieder fröhliche gewalttätige Urstände feiert – zusammen mit Dschihad und Hamas – und Al Kaida. Ihr Hauptangriffsziel ist seit Wochen und Monaten das ägyptische Militär.

Wenn sich das bestätigt – und wenn sich vor allem bestätigt, dass Mursi davon gewusst hat – dann wird es für ihn sehr eng, vor allem um seinen Hals rum. Es geht dann um etliche tote ägyptische Soldaten. 14 von ihnen sind ziemlich genau vor einem Jahr bei einem Anschlag auf eine Grenzstation ums Leben gekommen. Mursi nutzte sie Gunst der Stunde, um sich des Chefs des Obersten Militärrats SCAF, Feldmarschall Mohammed Tantawi, zu entledigen. Inzwischen hat es immer wieder Anschläge auf Militäreinrichtungen gegeben. Sollte jetzt noch herauskommen, dass Mursi davon gewusst hat, dann wäre der Hochverratsprozess mit feststehendem Ausgang unumgänglich. Und das ist die eigentliche Pointe des Tages: Der Staatsanwalt hat heute U-Haft für Mursi für die nächsten zwei Wochen angeordnet. Es soll untersucht werden, inwieweit die Hamas bei Mursis Befreiung aus dem Gefängnis beteiligt war. Der Weg von Gaza in den Sinai ist ja nun wirklich nicht weit – auch gedanklich. Mich würde es nicht wundern, wenn bei dieser Untersuchung noch ganz andere Dinge herauskommen würden.