Wenn Beschwichtigung zum Brandsatz wird

Mir scheint das alles ein wenig absurd zu sein. Ehe die Protestlager der Moslembrüder geräumt wurden, hat die aktuelle Regierung sechs Wochen lang immer wieder Gesprächsangebote an die Moslembrüder gemacht, die sich jedem Gespräch komplett verweigert haben. Trotzdem wurde die provisorische Regierung sowohl von den USA, als auch von der Bundesrepublik beständig kritisiert und zu Verhandlungen gemahnt. Einer der renommiertesten Diplomaten in Deutschland ist Jürgen Chrobog. Er ist selbst mit einer Ägypterin verheiratet, war der Büroleiter von Hans-Dietrich Genscher und Außenstaatssekretär unter Joschka Fischer. Ach ja, Botschafter in den USA war er auch noch. Der Mann versteht also etwas von seinem Job.  Und er sagt sehr Erstaunliches: »Die ständige Kritik und auch die relative Unterstützung der Moslembrüder heizt eigentlich mehr den Konflikt an, als dass es ihn ausgleicht.«

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Tatsächlich verbitten sich immer mehr Ägypter eine Einmischung von außen. Die Facebookseite Friends of Egypt hat nun sogar eine »Nachricht an die ganze Welt« verbreitet, das Ausland möge sich doch bitte zurückhalten. Die Verbitterung wächst – und das Gefühl, es mit falschen Freunden zu tun zu haben. Mancher meint, dass sich das Land lieber einer Diktatur der Moslembrüder hätte ausliefern sollen, als Mursi von der Macht zu vertreiben. Dabei sind ja viele Ägypter, die mit Mursi gar nichts am Hut hatten, todtraurig darüber, dass das erste demokratische Experiment mit einem gewählten Präsidenten so kläglich scheiterte.

Angesichts von mehr als sechshundert Toten fällt es natürlich sehr schwer, sich zurückzuhalten. Aber viele Ägypter sehen das ganz anders. Ein ägyptischer Soziologe etwa meinte: »Bei uns sterben jedes Jahr 30.000 Menschen im Straßenverkehr. Darüber regt sich niemand auf.« Tatsächlich scheint das Mitleid mit den Moslembrüdern, die nun versuchen, ein ganzes Land in Geiselhaft zu nehmen, in Ägypten selbst nicht mehr besonders ausgeprägt zu sein.

Dass El Baradai die Räumung der Camps zum Anlass nahm, seinen Rücktritt einzureichen, wirft ein weiteres Schlaglicht auf die völlig unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse. Während Außenminister Guido Westerwelle den Schritt des ihm freundschaftlich verbundenen Nobelpreisträgers nach eigenen Worten verstehen und nachvollziehen kann, betrachten viele Ägypter El Baradais Rückzug als ziemlich feige Fahnenflucht. Mehr noch – sein Rückzug und die verständnisvollen Worte des deutschen Außenministers bestätigen nur den Eindruck, den viele Ägypter von El Baradai schon seit zweieinhalb Jahren haben: Er ist ein wendischer, rückgratloser Politiker, der an den Fäden des Westens hängt.

War die blutige Räumung der Protestcamps wirklich so nötig? Tatsächlich wurde ja kurz der alberne Versuch unternommen, die Räumung zu einem Kairoer Kommunalproblem herunterzuspielen. Die Camps müssten deshalb sofort geräumt werden, weil sie wichtige Verkehrsverbindungen blockierten.

Tatsächlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Räumen oder Aushungern. Doch was wäre passiert, wenn man sich fürs Aushungern entschieden hätte? Wenn die Moslembrüder in einer Woche kleine, vom Tod gezeichnete Kinder präsentiert hätten oder elend verdurstete Frauen? Die Schuld wäre ja wieder nicht den Moslembrüdern gegeben worden, sondern der provisorischen Regierung – warum auch immer.

So traurig es klingt: Aber die derzeit Herrschenden am Nil sind von dem Moslembrüdern in eine Wahl hineingetrieben worden, die irgendwo zwischen Pest und Cholera liegt. Natürlich sehen die, die mit Bulldozern auffahren, vor der Welt immer schlechter aus, als die, die nur mit Steinen werfen. Es wäre ja leicht zu sagen: Das haben sie jetzt von ihrem Putsch. Andersherum: Erst durch den Umsturz sieht ja die Welt, zu was für rigorosen Handlungen die Moslembrüder fähig sind. Es werden wieder friedliche Tage in Ägypten einkehren und das hoffentlich bald – aber ich fürchte, dass bis dahin noch einiges Blut vergossen wird.

Was hilft Ägypten?

Ein Argument, das nicht nur Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi immer wieder vorbringen lautet: Er hatte ja nicht genug Zeit. Auch die Opposition hätte die daniederliegende Wirtschaft innerhalb eines Jahres nicht wieder zum Laufen bringen können. Wer die Entwicklung des letzten halben Jahres miterlebt hat, wer gesehen hat, wie die Schlangen vor den Tankstellen täglich länger wurden, wie die Preise explodierten, aber auch wie das ägyptische Pfund zusehends verfiel, der konnte es ahnen. Um einen Volksaufstand Mitte des Jahres vorauszusagen bedurfte jetzt nicht unbedingt besonders großer politischer Weitsicht. Ich persönlich hab mich vertan. Ich fürchtete, dass es schon Ende April, Anfang Mai so weit sein könne. Es spricht eigentlich für die Duldsamkeit der Ägypter, dass sie sich zwei Monate länger Zeit ließen. Die permanenten Drohungen und Mordaufrufe der Regierungsanhänger wirkten allerdings wie ein Katalysator – und rechtfertigen natürlich auch, dass Mursi und die Seinen davongejagt wurden.

DUNKLE WOLKEN hängen derzeit noch über der politischen Zukunft Ägyptens.              Foto: psk

DUNKLE WOLKEN hängen derzeit noch über der politischen Zukunft Ägyptens. Foto: psk

Ist jetzt die Frage aller Fragen: Wie geht es weiter und wie will Ägypten aus der desaströsen wirtschaftlichen Situation herauskommen. Auf den ersten Blick scheint die Aufgabe zu groß und völlig unlösbar. Wenn man überlegt, dass die Opposition unter anderem daran scheiterte, dass sie es nicht schaffte, sich auf irgendetwas zu einigen, dann sieht es ziemlich trostlos aus. Schon der Blick auf die, die da an einem Tisch sitzen und nun zusammenarbeiten müssen verheißt wenig Gutes: Vertreter der Tamarod, eigentlich einer Jugendorganisation, und Salafisten, die Koptischen Führer und Islamische Geistliche. Das werden sicher sehr lustige Gesprächsrunden. Natürlich ist mit Blick auf die Vergangenheit scheinbar ein Ding der Unmöglichkeit, dass sich diese heterogene Gruppe auf schnelle und bitter notwendige Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen einigt. Was auf Ägypten zukommen könnte, zeigt sich ja schon  jetzt an dem Hick-Hack um El Baradei als möglichen Premierminister.

Doch vielleicht sind die Aussichten ja gar nicht so schlecht. Das liegt letztlich in den Händen des Militärs. Auch wenn sich die Armee wieder in ihre Kasernen zurückziehen wird, hat sie vermutlich  den Schlüssel zur Lösung der Probleme in der Hand. Sie können die Regierung – wer immer sie stellen wird – förmlich kaufen. Und das meine ich ausnahmsweise nicht im schlechten oder korrupten Sinne. So kann die Armee zum Beispiel die Löhne ihrer Bediensteten erhöhen. Nehmen wir einmal an, die künftige Regierung braucht die Zustimmung der Salafisten für ein bestimmtes Projekt, doch die stellen sich quer. Wenn das Militär jetzt zum Beispiel seine Arbeiter in den Aluminuim-Werken in Oberägypten besser bezahlt – falls die Salafisten dem Projekt zustimmen, dann werden sie genau dort von ihrer Basis entsprechenden Druck bekommen.

Ob diese Beispiel jetzt 1:1 auf die Realität zu übertragen ist, vermag ich nicht zu sagen. Aber das Beispiel soll zeigen, dass das Militär durch seine wirtschaftliche Potenz ja durchaus Gestaltungsmöglichkeiten besitzt, die es zum Wohle des Landes einsetzen kann – und langfristig wohl auch muss. Wenn die Armee das täte, wäre es ja letztlich egal, ob sie weiterhin keine Steuern bezahlt oder irgendwann doch.

Sollte es den Militärs gelingen, hinter den Kulissen ausgleichend zu wirken, dann wird auch schnell wieder ein wirtschaftliche Gesundung eintreten. Schon sollen die Schlangen an den Tankstellen nicht mehr ganz so lange sein, was ich von hier aus nicht seriös beurteilen kann. Was ich aber beurteilen kann, dass ich morgen  am Bankschalter auf dem Flughafen von Hurghada deutlich weniger Ägyptische Pfund für meine Euros bekommen werde, als ich letzte Woche bekommen hätte – behauptet zumindest ein Währungsrechner. Das mag vielleicht für mich jetzt nicht ganz so angenehm sein. Für Ägypten ist es dagegen eine sehr ermutigende Nachricht.