Kommt jetzt die Ruhe nach dem Sturm?

Nach jetzigem Stand hat es in der Nacht sieben Tote gegeben. Schlimm genug, aber bedenkt man, wieviele Menschen im ganzen Land auf der Straße waren, da ging es doch eigentlich glimpflich ab. Die Berichterstattung in Deutschland war mal wieder zwischen kurios und Zum-Haare-Raufen. Der neue Korrespondent des ZDF, Thomas Ader, stammelte mehr als das er sprach – der arme Kerl stand offenbar Todesängste aus. Als ein oder zwei Armee-Hubschrauber tief über den Tahrir flogen, stellte er fest, dass die Stimmung gekippt sei, weil die Menge gejohlt habe – was immer er damit sagen wollte. Es kam jedenfalls so an, als hätten die Demonstranten Angst vor dem Militär. Hm. Soviel zur Sachkunde deutscher Korrespondenten.

Vor zwei Jahren haben wir in Deutschland gelernt, dass auf den Tahrir 300.000 bis 400.000 Menschen passen. Es hätte eigentlich ein Leichtes sein müssen, die Menschenmassen auf und um den Tahrir zu schätzen. Wenn die Nilbrücke und die Corniche zum Platzen voll sind und ebenso die Straße die zum Tahrir führen, ist es einfach mal Volkverdummung, wenn  es in einem öffentlichen-rechtlichen Sender in den Hauptnachrichten heißt: „Einige Zehntausend Menschen haben sich auf dem zentralen Tahrirplatz versammelt, um gegen den ägyptischen Präsidenten Mursi zu demonstrieren.“ Mein Gott, was für ein schlechter Journalismus! Immerhin, im Morgenmagazin der ARD war davon die Rede, dass es vielleicht die größte Demonstration war, die das Land je gesehen hat. Als größte „Demonstration“ gilt noch immer die Beerdigung von Gamal Abdel Nasser. Damals sollen fünf Millionen Menschen den Trauerzug gebildet haben. Falls jemand sich für meine Schätzung interessiert: Drei bis vier Millionen werden es auf und um den Tahrir gewesen sein. Ich lass mich aber gerne belehren.

Aber das Köpfe Zählen ist ja vielleicht nicht das spannenste. Erschreckender fand ich viel mehr, dass die Anhänger Mursis – zumindest in den Beiträgen, die ich gesehen habe – alle mit Helm, Schild und mindestens Schlagstöcken bewaffnet waren. Das sagt eigentlich alles. Allerdings, der Einwand gilt ja auch, wir wissen nicht, ob da gerade eine Gruppe von zehn Salafis ein schönes Motiv für einen Kameramann darstellten und genau diese Sequenz X-Mal um den Globus wanderte. Trotzdem bleibt ja wohl auch eines klar: Ich habe bislang noch von keinem Oppositionellen gehört, dass man die Moslembrüder umbringen müsste. Von der anderen Seite hörte sich das schon viel bedrohlicher an.

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee. Foto: Ashraf Sahleh

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee.
Foto: Ashraf Sahleh

Ein weiterer Punkt, der mich sehr überrascht und auch gefreut hat: Erstmals gab es in Hurghada eine sehr große und offensichtlich auch sehr friedliche Demonstration mit Volksfestcharakter. Manch einer wird das mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen haben. So friedlich das auch gewesen sein mag, die Reiseveranstalter haben diese Bilder sicher nicht gerne gesehen. Trotzdem: es war richtig. Sind wir doch mal ehrlich: der Tourismus macht Ägypten derzeit zu einem zweigeteilten Land. Das Niltal wird gemieden. Fast alle Kreuzfahrschiffe liegen still. An der Küste ist alles friedlich und da hoffen sie nur, dass in Kairo nicht all zu laut demonstriert wird, damit nicht auch noch die letzten Gäste am Roten Meer verscheucht werden. Dabei hat der Tourismus von der Revolte gegen Mursi am meisten zu gewinnen. Setzen sich der und die Brüderschar durch, dann wird die Islamisierung des Fremdenverkehrs nur noch eine Frage der Zeit sein.

Doch nun? Was tun? Spannend wird sein, was nach dem Ultimatum, das am Dienstag um 17 Uhr abläuft, passieren wird – oder eben auch nicht. Natürlich wird Mursi nicht weinend zurücktreten. Aber wenn er es nicht tut, dann ist kompletter ziviler Ungehorsam angesagt. Das klingt nach Generalstreik. Der würde das Land dann wirtschaftlich komplett zusammenbrechen lassen. Das müßte dann aber konsequenter Weise sofort das Militär auf den Plan rufen, weil ja fast die Hälfte aller Fabriken ihm gehören. Vielleicht ist das ja das Kalkül. Möglicherweise kommt nach dem Sturm jetzt die ganz große Ruhe, weil das Land plötzlich still steht. Und das ist viel bedrohlicher für die Regierung als zehn Großdemos in Kairo. Stillstand könnte jetzt Kollaps bedeuten. Aber vielleicht braucht es das ja, vielleicht muss es erst kollabieren, damit man von vorne anfangen kann.

Was das Land jetzt bräuchte, wäre ein ehrlich Makler. Einen, der die tief gespaltenen Gruppen wenigstens dazu bringt, miteinander zu reden. Doch woher soll der kommen? Die Ägypter sind viel zu stolz, um einen Ausländer zu akzeptieren. Ich dachte erst an jemand wie Boutros Boutros-Ghali. Der ist allerdings 91 und ich weiß nicht ob er gebrechlich und dement oder noch fit und geistig rege ist. Na ja, Georgio Napolitano  ist zwei Jahre jünger und hat Italien gerade mal wieder vor dem Untergang gerettet. Doch an einer Personalie wie Boutros-Ghali zeigt sich das ganze Dilemma. Der wird von den Brüder aus einem Grund nie akzeptiert werden: Er ist Kopte. Die beiden Lager sind nicht einmal in der Lage einen Vermittler zu finden. Miteinander reden tun sie nicht, weil sie einander zu tiefst misstrauen.

Doch über all die Gräben hinweg müßten sie doch auch über Gemeinsamkeiten zueinander finden. Die einzige Industrie, die in Ägypten derzeit Hochkonjunktur haben dürfte, ist die Wimpel- und Fahnenwirtschaft. Alle schwenken sie doch gerade die ägyptische Flagge, egal zu welcher Gruppierung sie gehören. Das heißt sie gehen aus Liebe zu ihrem Land auf die Straße. Das wäre doch schon einmal ein Anfang.